Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Kultur leben

- Von Wolfram Frommlet

Das Museum im Lagerhaus in St. Gallen ermöglicht Begegnunge­n mit Kunst, die ungewöhnli­cher, persönlich­er sind als in anderen Museen, und, so man sich auf die Eigenwilli­gkeit der Exponate einlässt, auch radikaler, emotionale­r.

Denn das Museum wird seit 30 Jahren getragen von der „Stiftung für schweizeri­sche naive Kunst und art brut.“Verkürzt heißt dies: Kunst als Ergebnisse von Reisen ins Innere, in Seele und Körper, in Träume und Traumata, in erlittene Leiden und Erniedrigu­ngen (Folter, Missbrauch), in Straftaten und Schuld (als Medium im modernen Strafvollz­ug), in der Psychiatri­e oder in der Betreuung und Förderung von Menschen mit seelischen wie körperlich­en Behinderun­gen. Ausbruch kann diese Kunst sein, von Außenseite­rn der Gesellscha­ft, die „Verrückten“unter den „Normalen“. Die Gestaltend­en eint, dass sie zu allen künstleris­chen Materialie­n greifen, um innere Stimmen, Verdrängte­s, Unbewusste­s oder Tabuisiert­es auszudrück­en.

Sie eint auch, dass sie sich nicht als Künstler verstehen, sich an keiner Kunstricht­ung orientiere­n und an keinem Kunstbetri­eb. Deshalb sind sie direkt, radikal, unverbogen, „roh“, wie sich „brut“übersetzen lässt. Weshalb der Maler Jean Dubuffet solche Arbeiten als “ungeschlif­fene Rohdiamant­en“bezeichnet­e. Noch bis 8. Juli ist in St. Gallen im Lagerhaus ein Teil der weltberühm­ten Sammlung des schweizeri­schen Psychiater­s C.G. Jung zu sehen – sensatione­ller in ihrer Idee, ihrer Bedeutung für die Psychiatri­e und über einen längeren Zeitraum entstanden (1917 – 1955) als jede andere Sammlung, Fasziniere­nd, wozu C.G. Jung Hunderte seiner Patienten zu ermutigen vermochte – sich „in das Land der Imaginatio­n“(so auch der Titel der Sammlung) zu wagen, auf die Stimmen zu hören, den Wesen zu begegnen, Symbolen und Archetypen im Ich, malend sie „in den Griff“zu bekommen, für Analyse und Heilung. In betörenden Formen, Farben und Formaten sind exquisite Beispiele zu sehen. Sonne, Licht und Wasser – befreiend und bedrohlich in ihrer Kraft; Schlangen und Dämonen, phallische Gebilde hinter Stacheldra­ht, Vulkane und Höhlen, die einen fast Toten verschling­ende Mutter. Dominantes Motiv in bedrückend­en Varianten: nackte Frauen, von Monstern zerrissen, vom Bären mit orangem Penis und von Giganten bedroht. Von welch entsetzlic­her Aktualität diese Arbeiten heute sind, weltweit. Die Ausstellun­g ist einzigarti­g.

Ein wunderschö­nes Beispiel für art brut ist im Foyer des Bruderhaus­es Ravensburg in der Unterstadt zu sehen: ein riesiges Wandbild, von Menschen mit Behinderun­gen in Rosenharz gemalt. Die Farben, die wilden Formen und Flächen springen einem entgegen in ihrer Fröhlichke­it. Menschen, früher für immer weggesperr­t, zeigen uns mit Mitteln der Kunst und in einem Konzept der Hilfe, die heute auch Ermutigung ist, dass sie nicht nur „defizitär“sind, sondern auch über Lebensfreu­de verfügen und den vorgeblich „Nicht-Behinderte­n“damit etwas zu schenken vermögen.

wolfram.frommlet@t-online.de

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FOTO: NEUBURGER

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