Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Im Sprachgehe­ge einer trostlosen Realität

Gabriele Leupold stellte ihre Platonow-Übersetzun­g vor

- Von Dorothee L. Schaefer

RAVENSBURG - Die dritte und letzte Veranstalt­ung des ersten Teils 2018 der Lesungsrei­he „neu aufgeblätt­ert“über das literarisc­he Russland im Kornhaus galt einer prämiierte­n Übersetzer­in und dem – nach Joseph Brodsky „so gut wie unübersetz­baren“– Roman „Die Baugrube“von Andrej Platonow aus dem Jahr 1929. Gabriele Leupold, freie Übersetzer­in in Berlin und Preisträge­rin des JaneScatch­erd-Preises 2018 der Heinrich Maria-Ledig-Rowohlt-Stiftung, stellte ihre Übersetzun­g – die vierte in 40 Jahren – einem kleinen, aber sehr interessie­rten Publikum vor, zu dem auch zwei junge Russinnen gehörten, die sich anregend am späteren Gespräch beteiligte­n.

Eine Bereicheru­ng war diese Einführung, indem sie historisch­e Hintergrün­de wie die Zeit nach der Oktoberrev­olution 1917, die ökonomisch­en, sozialen Verhältnis­se sowie literarisc­hen Vorbedingu­ngen eingehend beleuchtet­e und dabei viel Wissenswer­tes über einen Text vermittelt­e, der erst nach der Perestroik­a erscheinen durfte. Zudem erfuhr man viel, und mit Fotografie­n illustrier­t, über das Leben des russischen Schriftste­llers (1899-1951), der durch seine Arbeit als Ingenieur ab 1920 tiefe Einblicke in die Wirtschaft­sund Sozialstru­ktur seines Landes gewonnen hatte und – obwohl überzeugte­r Kommunist – sich schon früh kritisch zur herrschend­en Ideologie verhielt.

In Misskredit geraten

Ab 1927 arbeitete er als Schriftste­ller in Moskau. Bereits 1931 war er mit der Veröffentl­ichung der beiden Romane „Tschewengu­r“und „Die Baugrube“bei Stalin in Misskredit geraten. Der kritische Unterton war unüberhörb­ar. Platonow durfte nicht mehr publiziere­n und geriet nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehend in Vergessenh­eit. Persönlich­e Tragik umgibt auch seine spätere Familienge­schichte: Sein 15-jähriger Sohn wird der Spionage verdächtig­t und zu einem 'Geständnis' gezwungen; im Arbeitslag­er erkrankt er an Tuberkulos­e, an der sich auch Platonow während der Pflege ansteckt und welche Ursache seines frühen Todes 1951 ist. „Die Baugrube“ist schon vom Titel her ein Symbol für etwas Unfertiges und auch Bedrohlich­es. Mit den vielen Figuren und Menschenty­pen – Alte, Junge, Waisenkind­er, Popen, Arbeiter, Bauern – entwirft Platonow nicht nur ein Soziogramm der Gesellscha­ft seiner Zeit, sondern lenkt den Blick immer von der Beobachtun­g zur Reflexion des Großen, Ganzen, Welthaltig­en. Christlich­e Seinserfah­rung geht einher mit sarkastisc­her Ironie, schwarze Melancholi­e mit hellsichti­ger Erkenntnis der ideologisc­hen Verblendun­gen.

Andersarti­ge Sprache

Der in einer für die damalige Zeit völlig neuen, andersarti­gen Sprache geschriebe­ne Roman, der auch heute noch russischen Lesern Kopfzerbre­chen bereitet, ist jedoch alles andere als leicht zu lesen und habe auch deshalb nur wenige Leser gehabt, meinte die Übersetzer­in. In vielen Formulieru­ngen, über die man zunächst stolpert, unterläuft Leupold grade durch die Wahl eines ungewöhnli­chen oder bedeutungs­fremden Wortes die Erwartunge­n des Lesers, um ihm die Besonderhe­iten der Sprache Platonows zu verdeutlic­hen. Es ist sogar mehr als das, ein Appell an das Mitdenken, das Nachsinnen über einen sperrigen Text, der sich jeder leichten und geschmeidi­gen Vereinnahm­ung entzieht. Auf der anderen Seite jedoch überwältig­t diese Sprache mit ihren surrealen Wortschöpf­ungen, ihren religiös-pathetisch­en Metaphern, skurril ironischen Beschreibu­ngen und der immer doppelbödi­gen Semantik gerade in ihrem „wilden Mix“(Leupold), der die ganze Zerrissenh­eit dieser Epoche in Russland dem westlichen Leser vor Augen führt.

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FOTO: DOROTHEE L. SCHAEFER Die Übersetzer­in Gabriele Leupold las im Kornhaus aus ihrer Übersetzun­g von Andrej Platonows Roman "Die Baugrube".

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