Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Grausamer Erziehungs­stil in Kinderheim­en

Aufklärung­sbericht präsentier­t Details über Heimkultur in Korntal und Wilhelmsdo­rf

- Von Philipp Richter

WILHELMSDO­RF - Das System und die Umstände in den Kinderheim­en in ganz Deutschlan­d waren die Rahmenbedi­ngungen, die Kindesmiss­brauch in den Heimen möglich gemacht haben. Das geht aus dem Aufklärung­sbericht vor, der sich mit dem Missbrauch­sskandal in den Heimen der Evangelisc­hen Brüdergeme­inde in Wilhelmsdo­rf und Korntal in den 1950er- bis 1980er-Jahren beschäftig­t. Dieser wurde am Donnerstag vorgestell­t. (Die SZ berichtete: „Auch in Wilhelmsdo­rf wurden Kinder missbrauch­t“, 8. Juni).

Wie der Aufklärer Benno Hafeneger bei seiner Arbeit feststellt­e, konnte zur damaligen Zeit jeder als Erzieher in den Heimen beschäftig­t werden. „In den 1950er- und 1960erJahr­en konnte jeder dort arbeiten, der arbeiten wollte: ehemalige Offiziere der Wehrmacht oder Bäcker“, berichtet der Erziehungs­wissenscha­ftler. Es sei von einem Heimleiter bekannt, der Landwirtsc­haftsmeist­er gewesen ist. „Wir können auch nicht von einer qualifizie­rten Heimaufsic­ht in dieser Zeit reden“, so Hafeneger. Zwischen fünf und zehn Jahre liegen zwischen den Besuchen der Heimaufsic­ht.

Auch Therapien für Kinder, wie sie heute Standard sind, habe es in keinster Weise gegeben. Harte Prügelstra­fen waren üblich, Kinder wurden zur Strafe gedemütigt, sogar gezwungen, Erbrochene­s zu essen und stundenlan­g zu stehen. Auch von stundenlan­gem Stehen mit ausgestrec­kten Armen ist die Rede. In den alten Berichten stellte Hafeneger fest, dass fast ausschließ­lich negativ über Kinder gesprochen wurde: Kinder wurden als verwahrlos­t, verarmt, sündhaft und böse definiert. Kaum wurden Kinder als neugierig, lebendig und mit Entwicklun­gspotenzia­l beschriebe­n. Erst in den 1980er-Jahren habe sich, so Hafeneger, eine neue Heimkultur entwickelt.

Besonders perfide: Im Landeskirc­hlichen Archiv habe er alte Akten gefunden, in denen 18 Fälle von körperlich­er und 15 Fälle von sexualisie­rter Gewalt dokumentie­rt seien. Von einer Erzieherin sei bekannt, dass sie „sadistisch­e Züge“gehabt habe. „Man hat gewusst von Taten und Tätern.“Die Gemeinde habe damals zwar einigen beschuldig­ten Mitarbeite­rn gekündigt und sie angezeigt, in anderen Fällen aber versucht, die Angelegenh­eiten heimintern zu klären – „man könnte auch sagen, zu vertuschen“, so Hafeneger.

Die Aufkläreri­n Brigitte BaumsStamm­berger macht deutlich: „Die Heime waren in nichts besser oder schlechter als andere Heime.“Ehemalige Heimkinder, die das Heim gewechselt haben, hätten teilweise von schlimmere­n Umständen berichtet, so die ehemalige Richterin.

Im Video sprechen der Aufklärer Benno Hafeneger und das ehemalige Heimkind Detlev Zander über Wilhelmsdo­rf und die Aufklärung­sarbeit. Es findet sich unter: www.schwäbisch­e.de/ aufklaerun­gsbericht

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