Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Grausamer Erziehungsstil in Kinderheimen
Aufklärungsbericht präsentiert Details über Heimkultur in Korntal und Wilhelmsdorf
WILHELMSDORF - Das System und die Umstände in den Kinderheimen in ganz Deutschland waren die Rahmenbedingungen, die Kindesmissbrauch in den Heimen möglich gemacht haben. Das geht aus dem Aufklärungsbericht vor, der sich mit dem Missbrauchsskandal in den Heimen der Evangelischen Brüdergemeinde in Wilhelmsdorf und Korntal in den 1950er- bis 1980er-Jahren beschäftigt. Dieser wurde am Donnerstag vorgestellt. (Die SZ berichtete: „Auch in Wilhelmsdorf wurden Kinder missbraucht“, 8. Juni).
Wie der Aufklärer Benno Hafeneger bei seiner Arbeit feststellte, konnte zur damaligen Zeit jeder als Erzieher in den Heimen beschäftigt werden. „In den 1950er- und 1960erJahren konnte jeder dort arbeiten, der arbeiten wollte: ehemalige Offiziere der Wehrmacht oder Bäcker“, berichtet der Erziehungswissenschaftler. Es sei von einem Heimleiter bekannt, der Landwirtschaftsmeister gewesen ist. „Wir können auch nicht von einer qualifizierten Heimaufsicht in dieser Zeit reden“, so Hafeneger. Zwischen fünf und zehn Jahre liegen zwischen den Besuchen der Heimaufsicht.
Auch Therapien für Kinder, wie sie heute Standard sind, habe es in keinster Weise gegeben. Harte Prügelstrafen waren üblich, Kinder wurden zur Strafe gedemütigt, sogar gezwungen, Erbrochenes zu essen und stundenlang zu stehen. Auch von stundenlangem Stehen mit ausgestreckten Armen ist die Rede. In den alten Berichten stellte Hafeneger fest, dass fast ausschließlich negativ über Kinder gesprochen wurde: Kinder wurden als verwahrlost, verarmt, sündhaft und böse definiert. Kaum wurden Kinder als neugierig, lebendig und mit Entwicklungspotenzial beschrieben. Erst in den 1980er-Jahren habe sich, so Hafeneger, eine neue Heimkultur entwickelt.
Besonders perfide: Im Landeskirchlichen Archiv habe er alte Akten gefunden, in denen 18 Fälle von körperlicher und 15 Fälle von sexualisierter Gewalt dokumentiert seien. Von einer Erzieherin sei bekannt, dass sie „sadistische Züge“gehabt habe. „Man hat gewusst von Taten und Tätern.“Die Gemeinde habe damals zwar einigen beschuldigten Mitarbeitern gekündigt und sie angezeigt, in anderen Fällen aber versucht, die Angelegenheiten heimintern zu klären – „man könnte auch sagen, zu vertuschen“, so Hafeneger.
Die Aufklärerin Brigitte BaumsStammberger macht deutlich: „Die Heime waren in nichts besser oder schlechter als andere Heime.“Ehemalige Heimkinder, die das Heim gewechselt haben, hätten teilweise von schlimmeren Umständen berichtet, so die ehemalige Richterin.
Im Video sprechen der Aufklärer Benno Hafeneger und das ehemalige Heimkind Detlev Zander über Wilhelmsdorf und die Aufklärungsarbeit. Es findet sich unter: www.schwäbische.de/ aufklaerungsbericht