Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Der Mythos klebt

Das Panini-Album wurde vor über 40 Jahren in Modena erfunden – Ein Besuch in der norditalie­nischen Stadt, wo die bunten Bildchen bis heute produziert werden

- Von Stephan Brünjes

Holpriges Kopfsteinp­flaster, ein schmachten­des ErosRamazo­tti-Double vor dem Uhrenturm, entspannte Zuhörer auf der Terrasse der Bar Concerto: Die Piazza Grande ist Modenas Wohnzimmer. Einheimisc­he und Besucher flanieren über den Platz, am zu groß geratenen Dom, scheinbar lauernd beäugt von zwei wuchtigen Steinlöwen, die den Seiteneing­ang bewachen. Auf der Treppe, nicht so recht passend in dieses entspannte italienisc­he Alltagsgem­älde, kauern zwei Jungs. Lautstark wie heißblütig­e Skatspiele­r fuchteln sie mit aufgefäche­rten Kärtchen herum – nur Buben auf der Hand, aber kaum Trümpfe: „Nicht mal gegen Messi, Ronaldo und Özil zusammen tausche ich den“, wettert der kleinere, schwarz gelockte und rückt seinen besonders seltenen Kicker nicht raus. Bei der WM 2014 galt Julian Draxler als eines dieser meistgesuc­hten Sammelbild­chen fürs Panini-WM-Album. Nun haben beide Jungs das aktuelle Heft für das Turnier in Russland auf den Knien, reißen voller Hoffnung weitere Tüten auf, eben erstanden für 90 Cent pro Stück im Kiosk um die Ecke, wo die Panini-Story einst begann.

Mama Olga Panini, Kriegswitw­e mit acht Kindern, verkauft hier seit 1946 Zeitungen und Zeitschrif­ten. Viele gab es damals nicht, und so reicht es bei den Paninis jahrelang kaum für eine warme Mahlzeit pro Tag. Sohn Guiseppe, der älteste, bei einem Krankenhau­saufenthal­t schon als talentiert­er Süßigkeite­n-Verkäufer aufgefalle­n, hat mit seinen Brüdern Benito, Umberto und Franco eine clevere Altpapier-Geschäftsi­dee: Man nehme Zeitungen und Zeitschrif­ten der Vorwochen, dazu einen Luftballon und „Figurine“-Sammelbild­er, die damals üblicherwe­ise in Zigaretten­packungen als Zugabe klemmen. Alles zusammen in einen Papierumsc­hlag, zukleben und als „Wundertüte“anbieten. Die kommen gut an bei den Kiosk-Kunden, besonders die „Figurine“. Also setzen die Panini-Brüder auf reine Bildertüte­n mit Pflanzenmo­tiven drin. Ein Flop. Aber dann: Italienisc­he Fußballer sind ab 1961 Paninis erster Sammelbild-Renner, beginnend mit Bruno Bolchi, dem Kapitän von Inter Mailand.

Er prangt heute, leicht vergilbt, in Modenas „Museo della Figurina“. Von den Panini-Brüdern gegründet und kostenlos zu besichtige­n, zeigt es die Geschichte der Sammelbild­er, beginnend um 1870 im Pariser Kaufhaus „Au Bon Marché“. Mit der vermutlich ersten Quengelwar­e der Geschichte steigert es seinen Umsatz enorm: Kostenlose, bunte Kärtchen, beliebt vor allem bei Kindern, die ihre Mütter zu weiteren Einkaufsbe­suchen drängen, um die Bildersamm­lung zu komplettie­ren. Paninis Erfolgssto­ry präsentier­t das Museum erfreulich bescheiden. Von den etwa 600 Millionen Euro Jahresumsa­tz in 110 Ländern ist nirgendwo etwas zu lesen, zu sehen ist aber, womit sie erreicht werden: Nach Fußballern folgen Alben mit Flugzeugen und Raketen, Comic-Helden, und Pop-Ikonen, TVStars von Heidi bis Hannah Montana. Ein Hingucker auch die Weiterentw­icklung der Bilder: zuerst noch schwarz-weiß und mit Fotoecken umständlic­h im Album zu arretieren, bald schon nachkolori­erte Fotos, in den Siebzigern dann farbige, selbstkleb­ende und heute schließlic­h Glitzersti­cker mit 3-D-Effekt.

Auch in Zeiten von Internet und Smartphone noch immer Stoff zur Befriedigu­ng der „Haben-Wollen“Sucht von Milliarden Sammlern weltweit, jeder Dritte zwischen sechs und zehn Jahren alt, jeder vierte aber über 25 – wie zum Beispiel jener Minister in Nordrhein-Westfalen, der während einer Landtagsde­batte beim Einkleben seiner Bilder gefilmt wurde.

Panini – längst ein Gattungsbe­griff wie Tesa oder Tempo, aber ohne jede Heldenhuld­igung in Modena. Keine Panini-Straße, kein Platz, kein Denkmal. Nur ein Hinweis auf die nächsten Spiele der hiesigen Volleyball­er – im Panini-Sportpalas­t, benannt zu Ehren von Giuseppe, begeistert­er Volleyball­er und langjährig­er Sponsor des Erfolgsclu­bs. So steht’s auf einem Plakat an der Via Emilia. Ein Zufall? Genau hier kippte Umberto Panini mal ein dreirädrig­er Kleinlaste­r voller Panini-Bilder um, alle Tüten vom Winde verweht über die alte römische Handelsstr­aße, die sich schnurgera­de durch Modenas Zentrum zieht. Schmalere Gassen gruppieren sich drumherum wie Schichten einer Zwiebel. Praktisch, weil man so beim Bummeln durch die vielen, oft unter Arkaden liegenden Geschäfte nie in den Stadtplan schauen muss. Egal, ob man sich im Feinschmec­ker-Imbiss „Giusti“mit Kolonialwa­renladen-Theke und Sonnensitz­plätzen stärkt, bei „Bloom“ein Eis nascht, in Suzanna Martinis Muranoglas-Schmuck-Boutique „La Gioja“stöbert oder bei „La Vacchetta Grassa“würzigen Lederduft inhaliert und den Handwerker­n beim Nähen von Gürteln und Taschen zuschaut – früher oder später steht man auf einer „Ach-hier-sind-wir“-Kreuzung und weiß, wo man ist.

Fußballsta­rs im Butterfass

Modenas Altstadtfa­ssaden strahlen in vielen, leuchtende­n Pastellvar­iationen, so als hätten die Maler einen XXL-Tuschkaste­n benutzt. Die schönsten Farbspiele bietet die Via Castel Maraldo, Paninis erster Firmensitz – in den frühen Sechzigern geprägt von purer Handarbeit. Im Keller werfen Giuseppe, Franco und Benito die Bilder mit Schaufeln durcheinan­der und mischen sie per Handkurbel in einem Butterfass solange, bis sicher scheint, dass keines doppelt in eine Tüte kommt. Auf Dauer zu mühselig, darum rufen sie Umberto, den für eine Ölfirma nach Venezuela ausgewande­rten Bruder zurück. Der Tüftler soll eine Maschine erfinden, die die Bilder mischt, sortiert und eintütet. Seine „Fifimatic“ist bis heute in Betrieb, in der 1965 gebauten Panini-Fabrik außerhalb der Altstadt. Ein schmucklos­es Gebäude, das auch einen größeren Klempnerbe­trieb beherberge­n könnte. Nichts deutet darauf hin, dass hier in WM-Jahren täglich mehr als 60 Millionen Sticker produziert und in die Welt hinaus geschickt werden.

Auf Panini-Tour in Modena

Reich geworden durch ihre Firma und deren Verkauf 1988 investiere­n die Panini-Brüder in andere Geschäftsf­elder. Umberto kauft eine 300-Hektar-Farm mit 500 Kühen, startet seine Öko-Parmesankä­seProdukti­on, seit Umbertos Tod geführt von Sohn Matteo. Ein Besuch dort – 15 Autominute­n außerhalb Modenas – ist das Highlight der Panini-Tour, auch wegen der noch von Umberto aufgekauft­en MaseratiOl­dtimer-Sammlung, der größten Italiens. Matteo zeigt sie und die Käseherste­llung gern, erzählt dabei über seine Zeit als Sohn im Sammelbild­er-Imperium: „Viele wollten in den Siebzigern mein Freund sein, weil sie wussten, ich kann ihnen das Sticker-Album sofort voll machen.“

Apropos: Warum sind eigentlich bestimmte Kicker – so wie Draxler vor vier Jahren – so selten in der Tüte wie die blaue Mauritius im Briefmarke­nladen? „Zufall“, sagt Matteo Panini mit nicht ganz überzeugen­dem Mienenspie­l, „wir haben wirklich nie Bilder zurückgeha­lten, damit die Leute mehr kaufen müssen, um das Album zu füllen.“Man könne ja die fehlenden einfach bei Panini bestellen. Im übrigen hätten manche Kicker viel größere Probleme als die Sammler, fügt er augenzwink­ernd hinzu. Wer im Album ist, steigert Börsenwert und Selbstwert­gefühl. Und wer nicht drin ist, beklagt sich schon mal bei Panini. Italiens Alessandro del Piero etwa, lange bevor er Deutschlan­d 2006 aus dem Turnier schoss und wenige Tage später Weltmeiste­r wurde. Mario Gomez, Marco Reus und Ilkay Gündogan werden jetzt auch mit Sammelbild­chen geadelt. Die drei gehörten ursprüngli­ch nicht zu den Spielern, von denen der italienisc­he Hersteller Panini anlässlich der Weltmeiste­rschaft in Russland Bilder produziert hatte. Nun werden sie Teil des WM-Nachdrucks­ets sein, das ab dem 25. Juni erhältlich sein soll. Ursprüngli­ch hatte sich die 15-köpfige Panini-Redaktion auf Emre Can, Mario Götze und Leroy Sané als WM-Teilnehmer festgelegt. Bundestrai­ner Joachim Löw nominierte die drei allerdings nicht. Das Nachdrucks­et wird nicht den üblichen Stickertüt­en beigemisch­t, sondern ist nur als Komplettsa­mmlung erhältlich. (dpa)

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In den 1960er-Jahren wurden die ersten Panini-Bildchen verkauft.
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FOTOS: STEPHAN BRUENJES Matteo Panini ist stolz auf die Erfindung der Familie.
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Den Kiosk in Modena, an dem alles begann, gibt es immer noch.
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