Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Kultur leben
Dass Giacomettis mit Hinfälligkeit und Vergeblichkeit befrachtete Vision des Menschen auch mit der in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts veranstalteten industrialisierten Millionenmassentötung von Menschen zu tun haben muss, scheint naheliegend”, schreibt der Schweizer Autor Paul Nizon (Jahrgang 1929) zum Schaffen des großen Plastikers und Malers Alberto Giacometti (1901 - 1966). Zu finden ist der Text über seinen Landsmann in einem kürzlich veröffentlichten „Almanach der modernen Kunst“Nizons. Unter dem Titel „Sehblitz“(Suhrkamp Verlag) finden sich etliche Künstlerporträts, Werkbetrachtungen und Atelieroder Messeeindrücke des promovierten Kunsthistorikers. Neben seinen erzählenden Werken, mit denen sich Nizon seit den 1960er-Jahren eine Solitärstellung innerhalb der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur erschrieb, „entstanden weitere Texte zur zeitgenössischen Kunst und hommageartige Würdigungen großer Leitfiguren; sie sind für Kataloge, Zeitschriften und andere Medien verfasst worden“(Nizon). „Gehe ich zu weit, wenn ich behaupte, ich sei als Schriftsteller bei der Kunst der Moderne zur Schule gegangen?“, fragt er zum Abschluss seines Vorworts. In Anlehnung an Jackson Pollocks abstrakt expressive Arbeiten bezeichnete Nizon sein Schreiben selbst immer wieder als ein „Action Writing“. Es findet sich durchaus eine Parallele zwischen diesem aus der Schweizer Enge gen Paris übersiedelten Autor und dem aus der Abgeschiedenheit des südschweizer Bergells ins Paris der Surrealisten aufgebrochenen Giacometti.
Eine in mehrfacher Hinsicht verblüffende Gegenüberstellung der Werke Giacomettis mit denen
seines englischen Künstlerkollegen Francis Bacon (1909 - 1992) zeigt derzeit die Fondation Beyeler in Basel-Riehen. Scheint ihr Schaffen auf den ersten Blick auch unvereinbar, so lassen sich doch erstaunliche Gemeinsamkeiten erkennen. „Dies ist der Mann, der mich mehr als irgendein anderer beeinflusst hat“, wird Bacon zitiert. Auch hatten beide Künstler über gemeinsame Freunde miteinander Verbindung.
Von „Hinfälligkeit und Vergeblichkeit“, die Nizon in den Arbeiten Giacomettis sieht, ist in Bacons Werk ebenfalls eine Menge zu finden, allerdings in gänzlich anderer Manier. Hier Grazilität bis zur Auflösung der Individualität, dort Versehrung und Zerstörung des menschlichen Körpers. „Ich hoffe immer, die Leute so umzuformen, dass ihre Ausstrahlung deutlich wird; ich kann sie nicht wörtlich abmalen“, so Bacon. Für Bacon und Giacometti war die menschliche Figur das wichtigste Motiv ihres Schaffens. Beide beschäftigen sich mit dem fragilen Körper obsessiv, widmeten sich in vielen Porträts der Darstellung menschlicher Individualität. Sie sahen sich als „Realisten“, steigern aber die jeweils eigene Wahrnehmung der menschlichen Figur in eine extrem eigene Bildsprache des Verfremdens, das oft ans Verschwinden grenzt.
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