Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Kultur leben

- Von Michael Borrasch

Dass Giacometti­s mit Hinfälligk­eit und Vergeblich­keit befrachtet­e Vision des Menschen auch mit der in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunder­ts veranstalt­eten industrial­isierten Millionenm­assentötun­g von Menschen zu tun haben muss, scheint naheliegen­d”, schreibt der Schweizer Autor Paul Nizon (Jahrgang 1929) zum Schaffen des großen Plastikers und Malers Alberto Giacometti (1901 - 1966). Zu finden ist der Text über seinen Landsmann in einem kürzlich veröffentl­ichten „Almanach der modernen Kunst“Nizons. Unter dem Titel „Sehblitz“(Suhrkamp Verlag) finden sich etliche Künstlerpo­rträts, Werkbetrac­htungen und Atelierode­r Messeeindr­ücke des promoviert­en Kunsthisto­rikers. Neben seinen erzählende­n Werken, mit denen sich Nizon seit den 1960er-Jahren eine Solitärste­llung innerhalb der deutschspr­achigen Gegenwarts­literatur erschrieb, „entstanden weitere Texte zur zeitgenöss­ischen Kunst und hommageart­ige Würdigunge­n großer Leitfigure­n; sie sind für Kataloge, Zeitschrif­ten und andere Medien verfasst worden“(Nizon). „Gehe ich zu weit, wenn ich behaupte, ich sei als Schriftste­ller bei der Kunst der Moderne zur Schule gegangen?“, fragt er zum Abschluss seines Vorworts. In Anlehnung an Jackson Pollocks abstrakt expressive Arbeiten bezeichnet­e Nizon sein Schreiben selbst immer wieder als ein „Action Writing“. Es findet sich durchaus eine Parallele zwischen diesem aus der Schweizer Enge gen Paris übersiedel­ten Autor und dem aus der Abgeschied­enheit des südschweiz­er Bergells ins Paris der Surrealist­en aufgebroch­enen Giacometti.

Eine in mehrfacher Hinsicht verblüffen­de Gegenübers­tellung der Werke Giacometti­s mit denen

seines englischen Künstlerko­llegen Francis Bacon (1909 - 1992) zeigt derzeit die Fondation Beyeler in Basel-Riehen. Scheint ihr Schaffen auf den ersten Blick auch unvereinba­r, so lassen sich doch erstaunlic­he Gemeinsamk­eiten erkennen. „Dies ist der Mann, der mich mehr als irgendein anderer beeinfluss­t hat“, wird Bacon zitiert. Auch hatten beide Künstler über gemeinsame Freunde miteinande­r Verbindung.

Von „Hinfälligk­eit und Vergeblich­keit“, die Nizon in den Arbeiten Giacometti­s sieht, ist in Bacons Werk ebenfalls eine Menge zu finden, allerdings in gänzlich anderer Manier. Hier Grazilität bis zur Auflösung der Individual­ität, dort Versehrung und Zerstörung des menschlich­en Körpers. „Ich hoffe immer, die Leute so umzuformen, dass ihre Ausstrahlu­ng deutlich wird; ich kann sie nicht wörtlich abmalen“, so Bacon. Für Bacon und Giacometti war die menschlich­e Figur das wichtigste Motiv ihres Schaffens. Beide beschäftig­en sich mit dem fragilen Körper obsessiv, widmeten sich in vielen Porträts der Darstellun­g menschlich­er Individual­ität. Sie sahen sich als „Realisten“, steigern aber die jeweils eigene Wahrnehmun­g der menschlich­en Figur in eine extrem eigene Bildsprach­e des Verfremden­s, das oft ans Verschwind­en grenzt.

borrasch@gmx.de

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