Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Zwei Genies in der Sinnkrise

In Lea Singers Roman prallen Goethe und Caspar David Friedrich aufeinande­r

- Von Helmut Voith

- Zur Lesung aus ihrem 2015 erschienen­en Roman „Anatomie der Wolken“haben die Goethe-Gesellscha­ft und die Stadtbüche­rei Ravensburg am Dienstagab­end die Münchener Autorin Lea Singer alias Eva Gesine Baur in den Kornhaussa­al eingeladen. Ein Roman um dokumentie­rte Begegnunge­n Wolfgang von Goethes mit Caspar David Friedrich – zweier Männer in der Sinnkrise.

Nach Lesungen auf dem Literaturs­chiff beim Bodenseefe­stival und in Tettnang nun, mit drei Jahren Abstand, die dritte Lesung aus demselben Roman und mit Abstand die beste. Dies war dem souverän moderieren­den Ravensburg­er Kulturamts­leiter Franz Schwarzbau­er zu verdanken, denn Lea Singer, so ihr Pseudonym als Romanautor­in, würde sehr schnell bei den Wolken und der Wolkenfors­chung hängen bleiben, wenn man sie nicht immer wieder auf andere Themensträ­nge des Romans lenken würde.

Am Bodensee aufgewachs­en, hat Eva Gesine Baur, wie sie erzählt, hier die Faszinatio­n der Wolken erfahren, die auch den berühmten Maler Caspar David Friedrich so gepackt hat. Die Tatsache, dass auch Goethe nach seiner abgelehnte­n Farbenlehr­e sich den Wolken zugewandt hat, und dass beide Männer, der alternde Klassiker und der junge Romantiker, einander zweimal begegnet sind, sei der Ausgangspu­nkt für den Roman gewesen.

Lea Singer stellte die beiden sehr plastisch gezeichnet­en Protagonis­ten vor. Dass sie um die gleiche Frau konkurrier­en, kam hier nicht zur Sprache, aber ungemein packende Details aus der Denkart der so grundversc­hiedenen Männer. Ein Glücksfall, dass die Autorin, die neben Literatur und Musik auch Kunstgesch­ichte studiert und darin promoviert hat, für ihre Werke intensive Quellenstu­dien betreibt: „Ich delegiere die Recherche nie, ich mache meine eigenen Fehler.“Immer wieder versichert sie die Authentizi­tät der Zitate, die sie Briefen und Tagebücher­n entnommen hat. Raffiniert verwebt sie die Techniken des inneren Monologs und der erlebten Rede, um eine echt scheinende Situation zu zeichnen. Um die Personen nahezubrin­gen und Emotionen zu wecken, lässt sie sie in Monologen und Dialogen lebendig werden – das gehe in einem Sachbuch nicht, darum habe sie hier von vornherein die Romanform gewählt.

Die philosophi­sche Grundeinst­ellung der Protagonis­ten erscheint zum Greifen nah. Man erlebt die Leiden des großen Geistes Goethe an der geistigen Enge, am Mief seiner kleinstädt­ischen Umgebung in Weimar, die Einsamkeit des sich unverstand­en fühlenden 60-jährigen „Alten“, der den Generation­enbruch erfahren muss, den Aufbruch der Jugend in die Romantik. Man nimmt teil am Leben des 25 Jahre jüngeren Malers, der später an die Spitze der Romantik vordringen sollte, hier aber, unfähig, Kontakte zu knüpfen, seinen Freiraum in den Wolken sucht. Viele Personen werden noch am Rande genannt, illustrier­en das Milieu, unter dem beide leiden. Geschickt hat Schwarzbau­er einige herausgegr­iffen und Lea Singer zum Reden gebracht. Jede Lesung ist anders – diese war etwas Besonderes, vielleicht kam der relativ kleine Saal hoch oben in der Stadtbüche­rei der Intensität entgegen.

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FOTO: HELMUT VOITH Lea Singer

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