Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Europa ist an der Hochschule Alltag
Lehrende und Studenten betrachten die aktuelle politische Entwicklung in der EU mit Sorge
WEINGARTEN - Derzeit absolvieren junge Menschen aus 76 Ländern, darunter alle Mitgliedsstaaten der EU, eine akademische Ausbildung an der Hochschule Ravensburg-Weingarten. Daher bedurfte es für Lehrende und Studenten keiner besonderen Aufforderung, sich an einem Europatag der Hochschule zu beteiligen. Das kam unter anderem bei einer Podiumsdiskussion zum Ausdruck, an der sich als politischer Ehrengast der badenwürttembergische Justiz- und Europaminister Guido Wolf beteiligt hat.
Zuvor hatte es zwei Workshops, eine Kunstaktion (siehe unten) und andere Veranstaltungen zum Thema Europa gegeben. In seinem Grußwort nahm Oberbürgermeister Markus Ewald einen wichtigen Diskussionspunkt bereits vorweg, indem er berichtete, wie lebhaft polnische Austauschschüler mit ihren Gastgebern über das vielschichtige deutsch-polnische Verhältnis diskutiert hatten. Solche persönlichen Begegnungen an der Basis seien für die Zukunft dieses Kontinents mindestens so bedeutsam wie die nächtlichen Elefantenrunden der Minister und Regierungschefs in Brüssel, lautete ein Resümee dieser Diskussionsrunde.
Unternehmer macht sich Sorgen um Italien
Unter der Leitung des Sozialwissenschaftlers Maik H.-J. Winter vertrat Anja Twardokus die Riege der Studenten. Maurizio Gasperi, ein Unternehmer aus Italien und Leiter des Regionalforums Baden-Württemberg im deutschen Netzwerk Wirtschaftsethik, macht sich große Sorgen um die politische Stimmung in seinem Herkunftsland. Bertholds Broll, Vorstand der Stiftung Liebenau, plädierte für ein föderales Europa, dem man nicht von Skandinavien bis Sizilien die gleichen Standards aufdrücken dürfe, weil sonst die weniger entwickelten Länder und Regionen überfordert wären. Bei aller Kritikwürdigkeit der EU warnte Minister Wolf davor, Europa schlechtzureden, auch wenn dringend erforderliche Reformen wegen gegensätzlicher nationaler Interessen nicht oder nur schleppend vorankommen.
Für die junge Generation sei ein Leben ohne offene Grenzen schlicht unvorstellbar, meinte die Studentin. Sie habe noch Grenzkontrollen und Geldumtausch auf der Fahrt nach Österreich oder Italien erlebt: „Das kann sich ein junger Student heute kaum noch vorstellen, ebenso wenig ein Ende der internationalen Hochschulpartnerschaften.“Die Stiftung Liebenau, so Berthold Broll, sei in mehreren europäischen Ländern tätig und habe dabei erfahren, wie wichtig einerseits ein internationaler Gedankenund Erfahrungsaustausch ist, man aber andererseits vor allem die Eigeninitiative der Menschen vor Ort stärken müsse, um die jeweiligen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu verbessern. „Wir müssen darauf achten, dass Europa nicht in erster Linie als Bürokratiemonster wahrgenommen wird, das Dinge regelt, die auf kommunaler oder regionaler Ebene viel besser erledigt werden können.“„Die große Mehrheit der Bevölkerung befürwortet Europa“, gab sich Minister Wolf überzeugt. Diese Zustimmung sei aber gefährdet, wenn dieses einmalige Friedens- und Wohlstandprojekt durch kleinkariertes Gefeilsche zerredet werde. Eine große Gefahr für die gemeinsamen europäischen Werte sieht Wolf aber auch darin, dass in einigen Mitgliedsländern demokratische Grundpfeiler wie die Unabhängigkeit der Justiz und die Pressefreiheit beschnitten werden.
In einer elektronischen Befragung bewerteten die Besucher den gegenwärtigen Zustand Europas mehrheitlich mit befriedigend bis ausreichend. Einen wichtigen Grund dafür sieht Wolf darin, dass sich die Mitgliedsländer nicht auf eine gemeinsame Flüchtlingspolitik einigen können. Das habe erheblich zum Aufschwung rechtsextremer Parteien in Europa beigetragen. Die Welt sei aber so stark vernetzt, dass nationaler Egoismus für die Länder Europas nur in ein Desaster führen könne, warnte der Politiker.
Man dürfe Europa nicht allein den führenden Politikern überlassen, sondern müsse bei jeder Gelegenheit für die europäische Idee werben und seine Stimme erheben, lautete ein Fazit aus dieser Diskussion. Schul- und Städtepartnerschaften sollten mehr denn je die Menschen Europas zusammenbringen, damit sie bei ihrem Denken und Handeln immer auch über den eigenen Tellerrand hinaus blicken.