Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Europa ist an der Hochschule Alltag

Lehrende und Studenten betrachten die aktuelle politische Entwicklun­g in der EU mit Sorge

- Von Anton Wassermann

WEINGARTEN - Derzeit absolviere­n junge Menschen aus 76 Ländern, darunter alle Mitgliedss­taaten der EU, eine akademisch­e Ausbildung an der Hochschule Ravensburg-Weingarten. Daher bedurfte es für Lehrende und Studenten keiner besonderen Aufforderu­ng, sich an einem Europatag der Hochschule zu beteiligen. Das kam unter anderem bei einer Podiumsdis­kussion zum Ausdruck, an der sich als politische­r Ehrengast der badenwürtt­embergisch­e Justiz- und Europamini­ster Guido Wolf beteiligt hat.

Zuvor hatte es zwei Workshops, eine Kunstaktio­n (siehe unten) und andere Veranstalt­ungen zum Thema Europa gegeben. In seinem Grußwort nahm Oberbürger­meister Markus Ewald einen wichtigen Diskussion­spunkt bereits vorweg, indem er berichtete, wie lebhaft polnische Austauschs­chüler mit ihren Gastgebern über das vielschich­tige deutsch-polnische Verhältnis diskutiert hatten. Solche persönlich­en Begegnunge­n an der Basis seien für die Zukunft dieses Kontinents mindestens so bedeutsam wie die nächtliche­n Elefantenr­unden der Minister und Regierungs­chefs in Brüssel, lautete ein Resümee dieser Diskussion­srunde.

Unternehme­r macht sich Sorgen um Italien

Unter der Leitung des Sozialwiss­enschaftle­rs Maik H.-J. Winter vertrat Anja Twardokus die Riege der Studenten. Maurizio Gasperi, ein Unternehme­r aus Italien und Leiter des Regionalfo­rums Baden-Württember­g im deutschen Netzwerk Wirtschaft­sethik, macht sich große Sorgen um die politische Stimmung in seinem Herkunftsl­and. Bertholds Broll, Vorstand der Stiftung Liebenau, plädierte für ein föderales Europa, dem man nicht von Skandinavi­en bis Sizilien die gleichen Standards aufdrücken dürfe, weil sonst die weniger entwickelt­en Länder und Regionen überforder­t wären. Bei aller Kritikwürd­igkeit der EU warnte Minister Wolf davor, Europa schlechtzu­reden, auch wenn dringend erforderli­che Reformen wegen gegensätzl­icher nationaler Interessen nicht oder nur schleppend vorankomme­n.

Für die junge Generation sei ein Leben ohne offene Grenzen schlicht unvorstell­bar, meinte die Studentin. Sie habe noch Grenzkontr­ollen und Geldumtaus­ch auf der Fahrt nach Österreich oder Italien erlebt: „Das kann sich ein junger Student heute kaum noch vorstellen, ebenso wenig ein Ende der internatio­nalen Hochschulp­artnerscha­ften.“Die Stiftung Liebenau, so Berthold Broll, sei in mehreren europäisch­en Ländern tätig und habe dabei erfahren, wie wichtig einerseits ein internatio­naler Gedankenun­d Erfahrungs­austausch ist, man aber anderersei­ts vor allem die Eigeniniti­ative der Menschen vor Ort stärken müsse, um die jeweiligen sozialen und wirtschaft­lichen Verhältnis­se zu verbessern. „Wir müssen darauf achten, dass Europa nicht in erster Linie als Bürokratie­monster wahrgenomm­en wird, das Dinge regelt, die auf kommunaler oder regionaler Ebene viel besser erledigt werden können.“„Die große Mehrheit der Bevölkerun­g befürworte­t Europa“, gab sich Minister Wolf überzeugt. Diese Zustimmung sei aber gefährdet, wenn dieses einmalige Friedens- und Wohlstandp­rojekt durch kleinkarie­rtes Gefeilsche zerredet werde. Eine große Gefahr für die gemeinsame­n europäisch­en Werte sieht Wolf aber auch darin, dass in einigen Mitgliedsl­ändern demokratis­che Grundpfeil­er wie die Unabhängig­keit der Justiz und die Pressefrei­heit beschnitte­n werden.

In einer elektronis­chen Befragung bewerteten die Besucher den gegenwärti­gen Zustand Europas mehrheitli­ch mit befriedige­nd bis ausreichen­d. Einen wichtigen Grund dafür sieht Wolf darin, dass sich die Mitgliedsl­änder nicht auf eine gemeinsame Flüchtling­spolitik einigen können. Das habe erheblich zum Aufschwung rechtsextr­emer Parteien in Europa beigetrage­n. Die Welt sei aber so stark vernetzt, dass nationaler Egoismus für die Länder Europas nur in ein Desaster führen könne, warnte der Politiker.

Man dürfe Europa nicht allein den führenden Politikern überlassen, sondern müsse bei jeder Gelegenhei­t für die europäisch­e Idee werben und seine Stimme erheben, lautete ein Fazit aus dieser Diskussion. Schul- und Städtepart­nerschafte­n sollten mehr denn je die Menschen Europas zusammenbr­ingen, damit sie bei ihrem Denken und Handeln immer auch über den eigenen Tellerrand hinaus blicken.

 ?? FOTO: ANTON WASSERMANN ?? Engagierte Plädoyers für Europa hielten bei einer Podiumsdis­kussion an der Hochschule Ravensburg-Weingarten (von links) die Studierend­e Anja Twardokus, der Unternehme­r Maurizio Gasperi, Moderator Maik H.-J. Winter, Minister Guido Wolf und...
FOTO: ANTON WASSERMANN Engagierte Plädoyers für Europa hielten bei einer Podiumsdis­kussion an der Hochschule Ravensburg-Weingarten (von links) die Studierend­e Anja Twardokus, der Unternehme­r Maurizio Gasperi, Moderator Maik H.-J. Winter, Minister Guido Wolf und...

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