Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Offener Machtkampf in der Union
CSU setzt Kanzlerin Merkel im Streit um Abweisung von Migranten Ultimatum bis Montag
BERLIN - Seit bald drei Jahren gibt es Streit in der Union über die Flüchtlingsund Asylpolitik, nun eskaliert der Konflikt zwischen CDU und CSU. Nach weniger als 100 Tagen droht der Großen Koalition der Bruch. Es kommt zum offenen Machtkampf zwischen Bundesinnenminister
Horst Seehofer, dem CSU-Chef, und Bundeskanzlerin Angela Merkel, der CDUVorsitzenden. In der
Frage, ob Asylbewerber direkt an der deutschen Grenze zurückgewiesen werden sollen, setzte die CSU die Kanzlerin mit einem Ultimatum bis Montag maximal unter Druck und drohte mit einem Alleingang. Lässt sich die Kanzlerin das bieten? Lenkt sie ein? Gibt es doch noch einen Kompromiss? Und wie verhält sich die mitregierende SPD? Merkel selbst erklärte am Donnerstagabend trotz des eskalierenden Streits, sie rechne nicht mit einem Bruch der Regierung. Die Ministerpräsidentenkonferenz habe sie bestärkt, schneller und konzentrierter bei den anstehenden Projekten zu arbeiten, „und ich gehe davon aus, dass wir das auch gemeinsam tun, auch die Bundesregierung“, sagte sie nach einem Treffen mit den Ministerpräsidenten im Kanzleramt. Merkel distanzierte sich erneut vom Plan Seehofers für einen nationalen Alleingang bei den Rückweisungen von bestimmten Migrantengruppen an der deutschen Grenze. Bei diesem Vorhaben würden „Grundprinzipien unseres Herangehens berührt“. Sie glaube, „dass wir nicht unilateral handeln sollten, dass wir nicht unabgestimmt handeln sollten und dass wir nicht zulasten Dritter handeln sollten“.
Wenige Stunden zuvor hatte die CSU Merkels Vorschlag zurückgewiesen, in den kommenden beiden Wochen, bis zum EU-Gipfel am 28. Juni in Brüssel, auf europäischer Ebene eine Lösung zu finden. Man habe „nicht den Glauben daran“, dass eine Lösung auf EU-Ebene in wenigen Tagen zu erreichen sei, sagte CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Die Schwesterpartei setzte der CDU-Chefin ein Ultimatum bis Montag und kündigte indirekt an, Seehofer könne andernfalls per sogenanntem Ministerentscheid die Zurückweisung anweisen. Dies ist rechtlich möglich, ein Alleingang eines Ministers gegen den erklärten Willen Merkels würde aber wohl zwangsläufig das Aus für die Bundesregierung bedeuten. SPD-Parteichefin Andrea Nahles zeigte sich besorgt, wies den CSUVorschlag strikt zurück und forderte ein Ende des Unionsstreits. „Theaterstücke im Dienste von Landtagswahlen sind hier nicht angemessen“, sagte sie mit Blick auf die im Oktober anstehende Landtagswahl in Bayern. Politikwissenschaftler und CSUKenner Heinrich Oberreuter glaubt jedoch nicht, dass diese Strategie im Landtagswahlkampf hilft. „Es geht um die Stabilität der Regierung und die Zukunft unseres demokratischen Parteiensystems“, sagte er der „Schwäbischen Zeitung“. „Ich würde sagen, das ist wichtiger als die Landtagswahl und die Zukunft eines Ministerpräsidenten.“
BERLIN - Hunderte von Kameras und Journalisten sind auf der Fraktionsebene des Bundestags aufgebaut. „Absolut dramatisch“sei die Situation, meinen Abgeordnete. „Historisch“, sagt CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Die Bundestagssitzung wird einfach unterbrochen. Der Grund: Die CSU macht Ernst. Sie will ihren Kurs in der Flüchtlingspolitik gegen die Kanzlerin und deren Richtlinienkompetenz durchsetzen. Vier lange Stunden haben CSU und CDU in getrennten Sitzungen getagt – und ein Bruch der Fraktionsgemeinschaft ist zum Greifen nah.
War es schon mal so gefährlich für die Kanzlerin? Die meisten können sich nicht erinnern. Nachdem Angela Merkel in der Nacht zu Donnerstag einen Kompromiss im Asylstreit angeboten hatte, den die CSU aber nicht annahm, geht die Auseinandersetzung weiter.
Kauder gereizt
Wir sind in einer „historischen Situation“, sagt CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. „Wir wollen die Neuordnung des Asylsystems, und dazu dient unser Masterplan.“Vor allem aber: Man wolle jetzt entscheiden und nicht später, man wolle, dass an Deutschlands Grenzen Flüchtlinge zurückgewiesen werden. Natürlich werde man aber auch alle Bemühungen auf europäischer Ebene unterstützen.
Fraktionschef Volker Kauder geht, sichtlich gereizt, an Journalisten vorbei, schiebt den Vorsitzenden der Bundespressekonferenz zur Seite. Die SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles stichelt zeitgleich: Es dränge sich der Eindruck auf, dass es eine zugespitzte Situation bei der Union gebe.
Schäuble verteidigt Merkel
Hat es schon einmal getrennte Fraktionssitzungen von CSU-Landesgruppe und CDU-Fraktion gegeben? Auch daran kann sich niemand erinnern. Zumindest sei es 20 Jahre her. Wolfgang Schäuble kann sich aber noch sehr genau an den Kreuther Beschluss erinnern, in dem die CSU 1976 die Fraktionsgemeinschaft aufkündigte, wenn auch nur für wenige Tage. Der Bundestagspräsident Schäuble springt in der Fraktion Angela Merkel zur Seite, und auch Thomas de Maizière wirbt für ihren Kurs. Die CDU hat sich am Morgen ziemlich geschlossen hinter das Kompromissangebot ihrer Chefin gestellt. Die hat angeboten, schon beim EU-Gipfel in zwei Wochen bilaterale Verträge mit EU-Partnern zu erreichen, um die Zurückweisung und Rückführung von Ausländern zu ermöglichen, die in diesen Ländern bereits Asylanträge gestellt haben.
Damit geht Merkel auf die CSU zu, denn eigentlich wollte sie keine bilateralen Abkommen, sondern gesamteuropäische Lösungen erreichen. Auch in ihrer Fraktion hat sie für ihr Angebot große Unterstützung. Selbst harte Asylkritiker wie der Lörracher Abgeordnete Armin Schuster betonen, es sei doch selbstverständlich, dass die Frau Bundeskanzlerin noch einmal zwei Wochen Zeit bekomme. Mit dieser Regelung sei er zufrieden. Merkel-Kritiker Jens Spahn allerdings schert aus, er wirbt für die CSU-Position, jetzt schon Ernst zu machen.
„Wir hören das doch jetzt schon zweieinhalb Jahre“, schimpft Hans Michelbach (CSU), ohne dass etwas geschehen sei. Die CSU werde Innenminister Seehofer auffordern, seinen Masterplan durchzusetzen. Und vielleicht könne das ja auch auf EU-Ebene beschleunigend wirken. Und Georg Nüßlein (CSU) meint: „Die CSU ist für eine europäische Lösung bereit, aber sie muss da sein.“
Im CDU-Teil der Fraktion rücken die Abgeordneten derweil wieder näher an ihre Chefin. „Welches Spiel wird hier eigentlich gespielt?“, fragt sich nicht nur Haushälter Eckardt Rehberg. Teilnehmer verzeichnen einen Stimmungsumschwung.
CDU zusammengeschweißt
Nachdem am Dienstag noch einige CDU-Abgeordnete über den Kurs der Kanzlerin schimpften, merken sie jetzt, welche fatale Wirkung das hatte. Diesmal sind es nur fünf von 50 Rednern, die gegen Merkels Kurs sind. Der Druck von außen scheint die CDU-Abgeordneten und die Kanzlerin wieder zusammenzuschweißen. Einige schimpfen auf die CSU, die nur auf ihre bevorstehende Landtagswahl in Bayern schaue und auf sonst nichts.
Und Angela Merkel selbst? Sie steht seit Monaten in der Kritik und muss auch auf internationaler Bühne Misserfolge wegstecken wie jenen im Handelsstreit mit Donald Trump. Doch Merkel hat eine Teflonschicht um sich. Sie antwortet nicht auf Fragen wie jene, ob sie es schon bedauere, noch einmal als Kanzlerin angetreten zu sein. Sachlich sei sie in der Fraktion gewesen, wie immer, heißt es.
In einem Schlusswort vor den CDU-Abgeordneten nennt Merkel ihr Vorhaben „ambitioniert“, in den nächsten zwei Wochen zu Ergebnissen zu kommen. Sie dankt der Fraktion für ihre Unterstützung, sie fühlt sich bestärkt in ihrer Linie. Sie will weiter verhandeln, sie will die Tür nicht zuschlagen. Und nach zwei Wochen wolle man dann die Lage noch einmal bewerten. Nach derzeitigem Stand will die CSU aber nicht so lange warten, sondern schon am Montag Horst Seehofer drängen, seinen Masterplan umzusetzen. Notfalls im Alleingang mit einem Ministerentscheid.
„Die lassen den Druck drin“, analysiert CDU-Mitglied Oswald Metzger, der im Reichstag das Geschehen beobachtete. Und die CDU werde merken, dass die Linie Seehofers in der Bevölkerung eine Mehrheit habe. Denn das Flüchtlingsthema wühle die Menschen auf. In Zeiten der Fußballweltmeisterschaft gehe es um ein „Endspiel von Merkel“, so Oswald Metzger.