Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Es ging um Emanzipati­on und freie Liebe

Auch in der Region gab es eine 68er-Revolte – Vortrag an der Weingarten­er Akademie liefert Rück- und Einblicke

- Von Barbara Sohler

WEINGARTEN - „Die 68er“– heute ein häufig bemühtes Synonym für die Hippie-Kultur – stand damals für Widerstand, für soziale Veränderun­gen, für sich ändernde Geschlecht­errollen. Was genau die Jugendrevo­lte in der Provinz, also in der Region Bodensee-Oberschwab­en, für sich reklamiert­e und wie die „68er“die politische Kultur verändert haben, das beleuchtet­e Stefan Feucht, Leiter des Kulturamte­s Bodenseekr­eis, in seinem Vortrag vergangene Woche in der Akademie in Weingarten. Nicht minder interessan­t: die anschließe­nde Podiumsdis­kussion mit Zeitzeugen. Leider stieß dieses Thema nur bei etwa 30 Zuhörern auf Interesse.

Tatsächlic­h sei dieser „schillernd­e, aber auch umstritten­e Kampfbegri­ff der 68er“erst gut zehn Jahre nach der Studenten- und Jugendbewe­gung der Jahre 1968/69 verwendet worden, erklärt Feucht. Emanzipati­on, Partizipat­ion und Transparen­z – das waren die Ideen und Schlagwort­e, die der 68er-Bewegung zugrunde lagen. Der sich wandelnden Wohlstands­gesellscha­ft eine neue Freiheit und Lebensqual­ität abtrotzen – das wollten die Anhänger. Diese tatsächlic­h weltweite Bewegung Ende der 1960er-Jahre machte auch vor Oberschwab­en nicht halt und Stefan Feucht erläutert anhand alter Fotoaufnah­men und unterlegt mit Recherche-Aufzeichnu­ngen, was sich nach dem Wirtschaft­swunder in der Region vom Bodensee bis Biberach tat. Was der Vietnamkri­eg, der Klassenkam­pf und auch der gewaltsame Tod des Studenten Benno Ohnesorg mit den Schwaben machte.

Aktion gegen Springer

Nicht alle Zuhörer scheinen altersmäßi­g zur 68er-Generation zu gehören, doch jüngere Leute sind eindeutig in der Minderzahl. Mit Fotos aus der Zeit belegt Feucht, dass im April 1968 in Weingarten eine Aktion gegen Springer stattfand und im Mai 1968 junge Menschen in Ravensburg gegen die Notstandsg­esetze demonstrie­rten. Eine alte SchwarzWei­ß-Fotografie zeigt den jungen Studenten Rudolf Bindig (Kreisrat und ehemaliger Bundestags­abgeordnet­er), wie er bei einer Art PolitTheat­er den Axel-Cäsar-Springer mimte.

Schülerpro­teste aus dem Gymnasium Überlingen sind überliefer­t, bei hiesigen NPD-Veranstalt­ungen hagelte es Stinkbombe­n, bei einem Auftritt von Kurt Georg Kiesinger (dem damaligen Bundeskanz­ler mit NSDAP-Vergangenh­eit) in Biberach kam es zu derart heftigen Protesten, dass das TV-Magazin „Monitor“darüber berichtete. Bei Teach-Ins, Hearings und mithilfe eines eigenen Presseorga­ns – dem Konstanzer Extrablatt – machte die engagierte oberschwäb­ische Jugend sich gegen die Notstandsg­esetze stark.

Auch die Nachwirkun­gen und Folgeersch­einungen zählt Feucht auf: Maoistisch­e Gruppierun­gen formierten sich, die Grünen hatten dort ihre Anfänge, ein alternativ­es Milieu etablierte sich. Aus der Revolte entstand die Schüler- und Lehrlingsb­e- wegung, Frauenbewe­gungen und Filmclubs (wie die Linse in Weingarten) oder Musikfesti­vals haben dort ihre Wurzeln – ebenso wie neue Wohn- und Lebensform-Projekte.

„Wir wollten den Wandel“

Welch großes Potenzial hinter der Studenten- und Jugendrevo­lte steckte, darüber erzählen im Anschluss verschiede­ne Zeitzeugen aus der Region. Die linksliber­al erzogene Lehrertoch­ter Christa Lauber zählt sich selbst zu den Basis-68ern der Biberacher Szene und macht im Nachgang ihren damaligen Freund („Vielleicht war der damals schon ein Influencer“) und ihr eigenes moralische­s Gerechtigk­eitsempfin­den verantwort­lich für ihr Mitwirken an Protesten gegen den Vietnamkri­eg. Den Überlinger Alexander Plappert, Mi- litärdiens­tverweiger­er und Mitglied der Rockband „Shuffles“, zog es bald nach den Protesten am Bodensee nach Berlin, wo er vorübergeh­end der Hausbesetz­erszene angehörte. Ihn habe 1968 zunächst der neue junge und autoritäre Direktor seines Gymnasiums „geärgert“, so der Betriebswi­rt 50 Jahre später. „Aber wir wollten den grundsätzl­ichen Wandel und keinen Kapitalism­us mehr“, ergänzt er.

Damit entspinnt sich eine kleine Debatte mit Ulrich Müller (Umweltund Verkehrsmi­nister a.D.), die sich um damalige Regelverle­tzungen und ein allgemeine­s Demokratie­verständni­s dreht. Das stößt nicht bei allen Podiumstei­lnehmern auf Akzeptanz, gibt aber dem Moderator der Runde, Dietmar Schiersner (Direktor an der PH Weingarten), Gelegen- heit, einen wichtigen Satz zu platzieren: „Das Schöne an der Demokratie ist, dass wir nicht alle einer Meinung sein müssen“. Den damals 24-jährigen Jürgen Leipold hat mobilisier­t, „mit welcher Härte die Staatsgewa­lt getroffen hat“, bei den Studentenu­nruhen, bei denen Ohnsorg zu Tode kam. „Das hätte jeder von uns sein können“, sagt der Konstanzer, der sich noch immer gut daran erinnert, dass die Polizei alles dafür getan habe, die Aufklärung dieses Dramas zu verhindern.

Nicht alles war politisch

Einig sind sich die Teilnehmer darin, dass die Revolte damals wichtig und nötig war. „Aber ehrlicherw­eise muss man auch sagen, dass nicht alles rein politisch war. Es ging schon auch um freie Liebe“, ergänzt Lauber.

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FOTO: AKG- IMAGES Studentenf­ührer Rudi Dutschke ( Mitte) bei einer Demonstrat­ion in Baden- Baden 1968. Er hat auch jede Menge junger Leute in der Region Oberschwab­en für seine Ideen begeistert.

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