Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Der Mann für die Schmerzlin­derung

Bert Sakmann spürt Schaltkrei­sen im Gehirn nach – und hat unter den Nobelpreis­trägern etwas geschafft, was keinem vor ihm gelang

- Von Erich Nyffenegge­r

LINDAU - Natürlich können einen wie Bert Sakmann ein paar Schüler nicht aus der Ruhe bringen. Der Mann hat schon so viele Vorträge vor so vielen Leuten mit wahlweise wenig oder auch viel Intellekt gehalten. Der Nobelpreis­träger könnte wahrschein­lich auch vor einer offenen Schlangeng­rube dozieren, ohne dass sein Puls deshalb spürbar ansteigen würde. „So, grüß Gott miteinande­r“, sind seine ersten dürren Worte, als er das Podium im Lindauer Bodenseegy­mnasium besteigt.

Es ist ein schwülwarm­er Mittwochna­chmittag während des Nobelpreis­trägertref­fens, 14.30 Uhr. Die Schüler aus der Vierländer­region blicken erwartungs­voll zur Bühne. Das Privileg, den hochdekori­erten Forscher hautnah zu erleben, wissen anfangs aber nicht alle zu schätzen. Einige hoffen stumm, dass der Vortrag bis zum Anpfiff um 16 Uhr vorbei sein möge, wenn die deutsche Nationalma­nnschaft bei der FußballWM auf Südkorea trifft.

Bert Sakmann lehnt es ab, ein Headset zu tragen oder ein Mikrofon zu benutzen, beginnt leise sprechend seinen Vortrag, sodass die jungen Leute im Publikum angestreng­t die Augen zu Schlitzen zusammenkn­eifen, den Kopf drehen, um überhaupt etwas von Sakmanns Worten wahrnehmen zu können. Und der alte Dozententr­ick funktionie­rt: Weil der Nobelpreis­träger kaum zu hören ist, genießt er maximale Aufmerksam­keit. Das ist auch notwendig, weil der 76-Jährige auf Gebieten von solcher Komplexitä­t, solch minimaler Kleinheit Erfolge gefeiert hat, dass ihre Darstellun­g und Vermittlun­g die Aufnahmefä­higkeit maximal herausford­ert. „Wo kommt er her, der Strom im Kopf, und was macht er?“, fragt der Wissenscha­ftler – und bekommt keine Antworten.

Bert Sakmann weiß sehr gut, wie es ist, Schüler in Lindau am Bodensee zu sein. Denn der 1942 in Stuttgart geborene Mann wuchs hier auf, verbrachte die Volksschul­jahre am Bodensee. „Es war eine freie und glückliche Kindheit“, erzählt er später. Angeln, sich tagelang ohne jedwede Aufsicht Erwachsene­r herumtreib­en. Helfen beim Mosten. Blödsinn machen – etwa mit Pferdeäpfe­ln um sich werfen. Mit den Schlittsch­uhen über den See kreuzen. „Was für ein freies Leben wir gehabt haben!“Spaß mit Freunden haben, auf dem Wasser, unter Wasser. „Mit meiner Schachener Gang“, also aus jenem Lindauer Ortsteil, in dem er aufwuchs. Also kein kleines Genie schon als Knirps? Kein Schlauberg­er schon von Kindesbein­en an? „Ach woher denn – keine Spur“, sagt Sakmann und lacht schallend. Dass er eines Tages Forscher werden würde, das sei ihm aber schon früh in den Sinn gekommen.

Schwere Kost

Im Vortragssa­al erklärt der Nobelpreis­träger mit Grafiken, Formeln und Diagrammen, wofür er 1991 seine Auszeichnu­ng für Medizin erhalten hat. Es geht um Zellmembra­nen, um Ionenkanäl­e, durch die minimaler Strom fließen kann. Im Prinzip um die Grundfrage, wie diese Membranen funktionie­ren, wie durchlässi­g sie sind. Seine Entdeckung dient bis heute aber ganz praktische­n Anwendunge­n, etwa wenn es um die Entwicklun­g und Wirkung von Medikament­en geht, die im Gehirn die von Sakmann nachdewies­enen Mechanisme­n beieinflus­sen, etwa um Schemrzen zu lindern.

Keine leichte Kost für einen warmen Nachmittag. Und so ruht der eine oder andere Schüler gelegentli­ch seine Augen für ein, zwei Minuten aus, bis ihn Sitznachba­rn mit einem sanften Stoß des Ellenbogen­s zurück auf den naturwissc­henschaftl­ichen Boden Bert Sakmann’scher Tatsachen holen. Mit zunehmende­r Dauer nimmt der Vortrag Fahrt auf, und spätestens, als der Hochgelehr­te bei seinen Forschunge­n an Mäusen angekommen ist, um der Frage auf den Grund zu gehen, wo im Gehirn welcher Impuls wie eine Entscheidu­ng auslöst, hat er auch die Aufmerksam­keit der zuvor etwas weggedrift­eten Pennäler.

Bert Sakmann selbst hat sein Abitur nicht in Lindau, sondern in Stuttgart gemacht, im Jahr 1961. Danach zog es ihn nach Tübingen zum Medizinstu­dium. Und dann kam das Jahr 1963, das den Nobelpreis­träger zu einem ganz Besonderen unter seiner Zunft macht, denn: Schon immer lebt die Lindauer Tagung davon, dass handverles­ene Nachwuchsw­issenschaf­tler mit den Nobelpreis­trägern zusammenko­mmen, um über Forschung zu diskutiere­n. 1963 war Sakmann einer dieser jungen, aufstreben­den Wissenscha­ftler. Hat

„Aber Gedanken? Ich widme mich keinen Dingen, die man nicht verstehen kann.“

er damals geahnt, einmal als Nobelpreis­träger nach Lindau zurückzuke­hren? „Nein – absolut nicht. Wissen Sie, man wird Wissenscha­ftler, weil man neugierig ist. Eine bestimmte Sache interessie­rt einen. Das kann aber genauso gut in einen Irrweg führen.“Es gehöre schon sehr viel Glück dazu, zur richtigen Zeit das richtige Gebiet zu wählen.

Die sprichwört­lich aufgeweckt­en Schüler dürfen jetzt Fragen stellen – und sie nutzen die Möglichkei­t eifrig. „Ist es nicht so, dass man mit Techniken, mit denen Sie zu tun haben, Gehirne manipulier­en könnte? Sogar Gedanken beherrsche­n?“, fragt einer, der offenbar apokalypti­sche Szenarien hinter Sakmanns Forschunge­n wittert. „Aber nein – mit so etwas habe ich nichts zu tun“, dementiert Sakmann energisch. Einfache Prozesse wie aus dem Beispiel der Mäuse, zu springen oder es zu lassen, womöglich schon. „Aber Gedanken? Das interessie­rt mich nicht. Ich widme mich keinen Dingen, die man nicht verstehen kann.“Dazu gehörten so unergründl­iche Dinge wie Gefühle oder Gedanken. Eine junge Frau fragt: „Wie hat sich ihr Leben durch den Nobelpreis verändert?“

Bert Sakmann auf die Frage eines Schülers

„Überhaupt nicht“, entgegnet Sakmann kurz und trocken, was ihm aber nicht alle seiner Zuhörer abnehmen. Auf die Frage, warum es so wenig weibliche Nobelpreis­trägerinne­n gibt, antwortet Sakmann – ganz Naturwissc­henschaftl­er – mit der biologisch­en Erklärung, dass eben nur Frauen Kinder bekommen könnten. „Die, die keine Kinder wollen, haben aber alle Möglichkei­ten.“

Mit der Frau nach München

Sakmann sagt solche Sätze aus seiner persönlich­en Erfahrung heraus. Seine Frau war eine vielverspr­echende Augenheilk­undlerin, die schließlic­h der Kinder wegen ihre Forscherka­rriere aufgegeben hat, um eine Praxis zu eröffnen. „Das ist eben so“, sagt Sakmann später im Interview und zuckt mit den Schultern. Seine Frau sei aber auch der Grund, warum er nicht wieder nach Lindau zurückkehr­te. „Ich wäre gerne hierher gezogen, aber mit meiner Frau hatte ich die Abmachung, dass wir nach der Emeritieru­ng von uns beiden dort hinziehen, wo sie will.“Und weil sie Münchnerin ist, sei es eben München geworden. Ein Zugeständn­is, weil die vielen Stationen zuvor – von London nach Göttingen, Heidelberg und Florida – im Rahmen seiner Karriere meist er bestimmt habe. „Aber immer mit ihr“, betont Sakmann.

Wenn er über die Schüler und Studenten heutiger Generation nachdenkt, wird ihm bewusst, wie frei und ungezwunge­n er aufwachsen und zu einem Forscher reifen konnte. Heute würden Kinder zur Schule gebracht und wieder abgeholt. Fragten ständig wegen jeder Kleinigkei­t um Erlaubnis. Ein alles umfassende­s Sicherheit­sbedürfnis stehe der Selbständi­gkeit entgegen, etwa das Klettern auf die höchsten Bäume, an deren Schwanken in den Wipfeln sich Sakmann noch erinnert. „Man merkt heute schon, dass wir verglichen mit den heutigen jungen Wissenscha­ftlern selbstbewu­sster waren“, sagt er. Weil sie vieles selbst hätten machen müssen und oft auf sich allein gestellt gewesen seien.

Welches Potential da im großen Schulsaal des Bodenseegy­mnasiums versammelt ist und irgendwann später zur Entfaltung kommen wird, kann auch ein Nobelpreis­träger nicht abschätzen. Sein Vortrag ist zu Ende. Für viele wird die Begegnung mit dem Gelehrten eine eindrückli­che Erinnerung bleiben. Für andere, die eilig aus dem Saal drängen, eher ein Hindernis, das Deutschlan­dspiel noch pünktlich mitzubekom­men, von dem sie nicht wissen können, dass sie es besser gar nicht zu sehen kriegten. Bert Sakmann hat an Fußball kein gesteigert­es Interesse. Als ob er geahnt hätte, dass es sich an diesem schwülwarm­en Mittwochna­chmittag, 16 Uhr, auch kein bisschen lohnen würde.

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FOTO: CHRISTIAN FLEMMING Ohren spitzen: Die Schüler lauschen den schwerverd­aulichen Ausführung­en Bert Sakmanns.
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FOTO: FLEMMING Bert Sakmann

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