Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Viele in Europa fürchten Merkels Sturz
Mehrere Partner wollen Deutschland entgegenkommen – doch Österreichs Kanzler Kurz gibt die Richtung vor
BRÜSSEL/BERLIN (dpa) - Es ist ein Tag der ernsten Gespräche für Angela Merkel, ein Tag der guten Laune ist es nicht. Für die angeschlagene Kanzlerin beginnt er mit ihrer Regierungserklärung in Berlin, dann geht es nach Brüssel zum EU-Gipfel mit dem Topthema Flüchtlingspolitik. Bevor es richtig losgeht noch ein Einzelgespräch mit dem italienischen Regierungschef Giuseppe Conte, der in der Migrationspolitik Druck macht, so wie zu Hause die CSU. Nachmittags schließlich die Runde der 28 EU-Staaten. Ende offen.
Jeder in Brüssel weiß, dass Angela Merkel extrem unter Druck steht. Am Sonntag will die CSU entscheiden, ob ihr die Gipfelergebnisse genug sind. Guter Wille, der Kanzlerin entgegenzukommen, ist spürbar bei etlichen europäischen Partnern. Denn viele haben großes Interesse daran, den kontrollfreien Schengenraum zu retten und gemeinsames Handeln zu demonstrieren. Auch wäre eine Neuwahl in Deutschland für viele in Europa wohl ein unkalkulierbares Risiko.
Doch es ist noch nicht erkennbar, mit welcher Trophäe Merkel aus Brüssel zurückkehren könnte. Der österreichische Kanzler Sebastian Kurz gibt die Richtung vor. Er rechnet mit einer Trendwende in der europäischen Asylpolitik, und mit „Anlandezentren“für Flüchtlinge in Nordafrika. Am Abend drohte er zudem für den Fall eines deutschen Alleingangs bei der Zurückweisung von Flüchtlingen an der Grenze mit „Gegenmaßnahmen“– und reagierte damit auf die Ankündigung von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU).
Indes blockierte Italiens Premier Giuseppe Conte alle Beschlüsse zu anderen Themen – für eine Zustimmung müsse eine Einigung auch zur Migration her, heißt es.
Im Entwurf der Gipfelerklärung ist die Rede von besserem Schutz der Außengrenzen durch Stärkung der EUAgentur Frontex – und von sogenannten Anlandepunkten – oder „Ausschiffungszentren“– außerhalb der EU, die Bootsflüchtlinge aufnehmen könnten. Solche Sammellager würden Italien gefallen, das mit der Sperrung seiner Häfen für private Rettungsschiffe Druck in der Migrationsdebatte aufgebaut hat. Es wird wohl auch der CSU passen. Aber es ist eben kurzfristig keine Antwort auf Seehofers Forderung, die Weiterreise in der EU registrierter Asylbewerber nach Deutschland zu unterbinden und sie an der Grenze abzuweisen.
Diese „Sekundärmigration“ist im Entwurf der Gipfelerklärung nur kurz angerissen: Sie sei gefährlich für das europäische Asylsystem und das Abkommen von Schengen, und alle EUStaaten sollten dem entgegenwirken. Ob das Seehofer und seiner CSU reicht, um den erbitterten Streit mit Merkel beizulegen? Klar ist immerhin am Donnerstagabend: Unter dem Druck aus München und Rom wird die EU ihre Asylpolitik weiter verschärfen, Grenzen dicht machen, Lager für Flüchtlinge außerhalb der EU schaffen. Merkel wird das wohl mittragen. Immerhin wäre es eine europäische Lösung.