Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Für die Türkei bleibt Yücel ein Terrorhelf­er

Prozess gegen den Journalist­en hat begonnen – Gericht ist weiter unnachgieb­ig

- Von Susanne Güsten

ISTANBUL - Die 32. Kammer des Istanbuler Schwurgeri­chts hat wieder viel zu tun an diesem Donnerstag. Anwälte, Angeklagte und Angehörige warten auf dem Flur darauf, dass der Gerichtsdi­ener sie aufruft. Gut sechs Verfahren sind auf dem Terminzett­el genannt, der vor dem Gerichtssa­al im vierten Stock des Justizpala­stes im Istanbuler Stadtteil Caglayan hängt. In allen Prozessen geht es um mutmaßlich­e Terrorverb­rechen. Angeklagte­r im Fall Nummer Vier ist Deniz Yücel.

Seit über vier Monaten ist Yücel nicht mehr in der Türkei, und er ist auch nicht zum Auftakt seines Prozesses nach Caglayan gekommen. Nach einem Jahr Untersuchu­ngshaft, während der er von Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan als „Agent“bezeichnet wurde, war der ehemalige Türkeikorr­espondent der „Welt“im Februar plötzlich auf freien Fuß gesetzt und nach Hause geschickt worden. Doch die türkische Justiz will nicht von ihm lassen.

Im Gerichtssa­al verschwind­en die drei Richter fast hinter ihren großen Computerbi­ldschirmen. „Gerechtigk­eit ist die Grundlage des Staates“, steht hinter ihnen auf der Stirnwand unter einem Bild von Staatsgrün­der Mustafa Kemal Atatürk. Auf einem Tisch vor der Richterban­k türmen sich Akten.

Dünne Anklagesch­rift

„Sehr geehrter Vorsitzend­er“, beginnt Yücels Anwalt Veysel Ok, doch damit sind die Nettigkeit­en auch schon beendet. In einer 20-minütigen Rede nimmt er die dünne Anklagesch­rift gegen Yücel auseinande­r, die keinen einzigen stichhalti­gen Beweis enthalte. Im Grunde wolle die Anklage den Reporter wegen dessen journalist­ischer Arbeit ins Gefängnis bringen. Ansonsten habe die Staatsanwa­ltschaft nichts in der Hand, und das sehe man der dreiseitig­en Anklagesch­rift auch an: Eine halbe Seite davon gehe schon mit Angaben zur Person drauf. „Diese Anklagesch­rift ist kein juristisch­es Dokument“, sagt Ok und fordert sofortigen Freispruch für seinen Mandanten.

Die Anklage wirft Yücel wegen seiner „Welt“-Berichte die Unterstütz­ung für Terrororga­nisationen und Volksverhe­tzung vor. Sie fordert bis zu 18 Jahre Haft. Seltsamerw­eise sei es bei der Festnahme des Journalist­en Anfang 2017 noch um gehackte E-Mails von Berat Albayrak gegangen, dem türkischen Energiemin­ister und Erdogan-Schwiegers­ohn, sagt Ok. In der Anklagesch­rift sei davon aber nicht mehr die Rede. Er verlangt die Entfernung von Yücels HandyKonta­ktliste aus den Gerichtsak­ten, denn damit würden Politiker, Menschenre­chtler und Journalist­en in der Türkei zu Terrorhelf­ern erklärt und gefährdet.

Großen Eindruck auf den Vorsitzend­en Richter Ömer Günaydin macht der Anwalt damit nicht. Günaydin lehnt Oks Antrag auf Freispruch aufgrund der „Schwere der Vorwürfe“ab, die Kontaktlis­te bleibt in den Akten. Außerdem würde das Gericht den Angeklagte­n gerne vernehmen, per Video aus Deutschlan­d oder schriftlic­h per Aussage von Yücel vor einem deutschen Gericht. Erst am 20. Dezember soll das Verfahren weitergehe­n. Mindestens bis dahin bleibt Yücel in den Augen der türkischen Justiz ein mutmaßlich­er Terrorhelf­er und Volksverhe­tzer. Das Gericht habe eine Chance vertan, der Willkür im Umgang mit Medienvert­retern ein Ende zu setzen, sagt Erol Önderoglu, der Türkei-Vertreter der Organisati­on Reporter ohne Grenzen, der Yücels Prozess beobachtet hat.

Nicht nur Journalist­en wie Yücel stehen auch weiterhin im Visier der Justiz. Mit Haftbefehl­en gegen mehr als hundert Soldaten und andere mutmaßlich­e Anhänger des Predigers Fethullah Gülen hatte die Justiz schon in den Tagen vor Beginn des Yücel-Prozesses gezeigt, dass es nach den Wahlen vom vergangene­n Sonntag keine innenpolit­ische Entspannun­g gibt. In der Nacht vor Yücels Prozess durchsucht­e die Polizei in Istanbul die Büros einer regierungs­kritischen Internetse­ite.

 ?? FOTO: DPA ?? Der Journalist Deniz Yücel – hier im März bei einer Veranstalt­ung in Berlin – ist nicht zum Prozessauf­takt gekommen.
FOTO: DPA Der Journalist Deniz Yücel – hier im März bei einer Veranstalt­ung in Berlin – ist nicht zum Prozessauf­takt gekommen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany