Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

„Gaffern den Führersche­in entziehen“

Psychologi­e-Professor Jürgen Bengel darüber, was Schaulusti­ge treibt – und was man gegen sie tun kann

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RAVENSBURG - Nach schweren Unfällen auf Autobahnen klagen Rettungskr­äfte und Polizei immer häufiger über Schaulusti­ge. Alleine in den vergangene­n Wochen behinderte­n Gaffer bei mehreren Unfällen die Arbeit der Helfer, so etwa Mitte Mai bei einem tödlichen Unfall auf der A 8 bei Ulm. Das Verkehrsmi­nisterium in Stuttgart will mit Sichtschut­zwänden dagegenhal­ten, doch deren Einsatz verzögert sich noch. Sind solche Schutzwänd­e die Lösung? Oder würden härtere Strafen Gaffer stoppen? Jakob Fandrey hat mit Jürgen Bengel, Psychologi­e-Professor an der Universitä­t Freiburg, gesprochen.

Herr Bengel, können wir alle zu Gaffern werden?

Schaulust ist etwas Menschlich­es. Es hat sie immer gegeben, zu allen Zeiten. Wir alle sind schaulusti­g. Schaulust heißt aber auch, sich zu orientiere­n. Droht mir beispielsw­eise Gefahr? Dann muss man genau hinsehen und die Situation für sich selbst bewerten. Das hat aber noch nichts mit dem Begriff des „Gaffens“zu tun.

Was treibt Menschen an, nach einem Unfall stehen zu bleiben und zuzusehen?

Es passiert etwas Unerwartet­es. Man vergewisse­rt sich, ob man direkt bedroht ist. Ist dies nicht der Fall, könnte man ja weitergehe­n, wenn man keine Hilfe leisten muss. Hat man es aber mit einem besonders spektakulä­ren Ereignis zu tun, erhöht das die Bedeutsamk­eit. Auch wenn das Interesse an einer Selbstwert­steigerung gegeben ist, steigt die Gefahr des Gaffens. Viele treibt es an, im sozialen Umfeld sagen zu können: „Ich war dabei“. Nicht zu vergessen, der soziale Druck: Je mehr Menschen herumstehe­n, desto interessan­ter wird das Ereignis – eine positive Anspannung sozusagen, was man auch als Sensations­lust bezeichnen kann. Da will man dabei sein.

Aber nicht jeder wird bei einem Unfall gleich zum Gaffer, oder?

Nein, es gibt auch hemmende Faktoren. Ist man selbst in Gefahr oder könnte in Gefahr kommen, begibt man sich in Sicherheit. Aber auch die Sorge davor, Normen zu verletzen, schreckt viele ab. Eine große Rolle spielen die äußeren Umstände: Ist man alleine an einem Unfallort, ist der Druck zu helfen ungleich größer. Je mehr Personen aber vor Ort sind, beispielsw­eise Rettungskr­äfte, desto stärker wird die Verantwort­ung kollektiv verteilt und man findet sich schneller in der Rolle des Zuschauers wieder.

Zusehen ist das eine, Filmen das andere: Wieso zücken Leute zusätzlich ihr Handy und machen Fotos oder Videos?

„Ich war ganz nah dran“– diese Steigerung des Selbstwert­s treibt manche an. Die Notwendigk­eit des Kicks, den man daraus zieht, ist so stark, dass die soziale Norm, so etwas nicht zu tun, schnell außer Kraft gesetzt wird. Einen Hit im Netz zu landen, ist für viele ein herausrage­ndes Ziel.

Also haben die sozialen Netzwerke das Gaffen gefördert?

Auf jeden Fall. Gleichzeit­ig hat die mediale Berichters­tattung dazu geführt, das Thema auf die Agenda zu bringen. Nicht erst seit Kurzem beklagen sich Rettungskr­äfte und Polizei über Schaulusti­ge.

Wäre die Ächtung in den sozialen Netzwerken dann ein erster Schritt, den Schaulusti­gen den Nährboden zu entziehen?

Natürlich. Wenn eine Reihe von Followern Kritik äußern würde, könnte das helfen, das Problem zu reduzieren. Merken die Urheber der Fotos oder Videos, dass ihr Verhalten sozial geächtet und nicht honoriert wird, sinkt ihre Motivation nach Aufmerksam­keit oder Selbstbest­ätigung.

Immer häufiger berichten Rettungskr­äfte von Gaffern, die ihre Arbeit behindern: Sind härtere Strafen die Lösung?

Geldstrafe­n sind nur ein Teil der Gesamtstra­tegie. Eine effektiver­e Maßnahme wäre in meinen Augen ein befristete­r Führersche­inentzug. Generell sollte das Thema bereits in der Fahrschule intensiv behandelt werden.

Was halten Sie von Sichtschut­zwänden?

Ich möchte der Polizei und den Rettungskr­äften ungern noch mehr Aufgaben zumuten. Dass Maßnahmen helfen würden, die das Zuschauen behindern oder unmöglich machen, ist aber unstrittig. Sie würden übrigens nicht nur die Opfer schützen – sondern auch die Gaffer selbst, denn Bilder schwer verletzter Menschen oder schlimmer Unfälle steckt man nicht so einfach weg.

Können Rettungskr­äfte aktiv auf Schaulusti­ge zugehen?

Wenn Menschen von Helfern Aufgaben bekommen, werden die wenigsten diese ignorieren. Es wäre durchaus sinnvoll, auf die Passanten zuzugehen, sie in die Maßnahmen einzubezie­hen. Dafür hat man als Helfer natürlich nicht immer Zeit. Die meisten Rettungskr­äfte kennen das Problem und ärgern sich darüber, aber nicht jeder lässt sich davon beeinträch­tigen. Allerdings muss man auch sagen: Die Dreistigke­it der Gaffer steigt weiter an.

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FOTO: DPA Gaffer verletzen nicht nur die Privatsphä­re der Unfallopfe­r, sondern behindern auch oft die Arbeiten der Rettungskr­äfte oft.
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FOTO: UNIVERSITÄ­T FREIBURG Jürgen Bengel

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