Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Rücksichtslose Realpolitik
Drei Signale gehen vom jüngsten europäischen Gipfeltreffen aus. Erstens: Die EU ändert radikal ihre Flüchtlingspolitik. Sie schottet sich nach außen ab, um im Inneren ihre Handlungsfähigkeit zu erhalten. Mit Moral oder gar den viel beschworenen Werten hat das wenig zu tun, die meisten nennen so etwas Realpolitik. Zweitens: Die Gipfelbeschlüsse werden vor allem von Regierungen begrüßt, die entweder von Rechtspopulisten toleriert (Dänemark) oder gar von ihnen maßgeblich getragen werden (Italien oder Österreich). Und drittens: Damit wird es der CSU schwer gemacht, die Große Koalition an diesem Wochenende platzen zu lassen.
Zwar befindet sich Ministerpräsident Markus Söder in einem hochtourigen Wahlkampfmodus, aber die italienische Lega oder die österreichische FPÖ nach diesen Entscheidungen jetzt noch rechts zu überholen, dürfte sowohl den eigenen Mitgliedern wie der bayerischen Wählerschaft wenig gefallen. Umfragen zeigen bereits, dass sich Söder vielleicht verzockt. Die Prognose ist nicht allzu gewagt, so Rationalität einkehren sollte, dass Kanzlerin Angela Merkel ihr Amt behalten wird.
Zur Umsetzbarkeit des Versuches, die afrikanische Migration zu stoppen: Das neue Wortkonstrukt „Ausschiffungsplattformen“bewegt sich nahe an den Potemkinschen Dörfern, die nach außen etwas vorgaukeln, denen aber die innere Substanz fehlt. Die EU wiederholt ihre jahrzehntelangen Fehler im Verhältnis zu den afrikanischen Staaten. Anstatt mit ihnen zu reden, wird über sie gesprochen. Von oben nach unten. Partnerschaft sieht anders aus.
Die Idee, auf afrikanischem Boden für die EU den Polizisten zu spielen, stößt nicht nur in Marokko auf heftige Ablehnung. Wenn überhaupt, wird die Lösung der Problematik Jahrzehnte dauern. Zu den Fluchtursachen gehören primär die fehlenden wirtschaftlichen Lebensperspektiven von Millionen von Afrikanern. Europa fischt die dortigen Küstengewässer leer, zerstört mit hoch subventionierten Agrarprodukten lokale Märkte und ist für den Klimawandel mitverantwortlich, der in Afrika bereits erhebliche Auswirkungen zeigt.