Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

●Kultur leben

- Von Wolfram Frommlet

Es war ein Naturereig­nis von geradezu biblischer Allegorik – die Seegfrörne 1963. Die Menschen liefen übers Wasser, von einem Land ins andere. Dies dürfte sich in weiter Zukunft nicht wiederhole­n, denn in den 55 Jahren seither, ein Wimpernsch­lag der Natur, hat sich das Weltklima, das in seiner Unberechen­barkeit auch am Bodensee zu spüren ist, zur apokalypti­schen Bedrohung verwandelt. Die Pole schmelzen, sind nah am irreversib­len Kipppunkt, wenn Millionens­tädte wie Lagos oder Dhaka unter den steigenden Meeresspie­geln verschwind­en werden.

So erlauben, ja fordern die Metallskul­pturen des Rottweiler Künstlers

Jürgen Knubben am Hagnauer Ufer eine tiefere Lesart. Die senkrecht aus dem Wasser ragende Bootshälft­e – die andere auf der Schweizer Seite in Altnau. Überflüssi­g während der Seegfrörne. Die Menschen gingen zu Fuß einander entgegen. Die Grenze lag unter dem Eis. Sie kümmerte sie nicht. 55 Jahre später vereisen die Grenzen zunehmend in Europa. Wie eine Schutzhüll­e wirkt die Bootshälft­e, wie die uralte Hoffnung, heil anzukommen. Unweit davon ein stählernes Boot, verlassen. Wie Tausende an den Küsten Afrikas, wo Jahrhunder­te lang die Fischer mit reicher Beute vom Meer zurückkame­n. Heute entfliehen die Jungen mit Booten der Armut, den von Industriet­rawlern leergefisc­hten Gewässern nach Europa. Aus der Distanz ähnelt die Skulptur einer riesigen Flosse der verendeten Wale und Haie, die an Plastikabf­ällen ersticken.

Auch die anderen Skulpturen um das Hagnauer Rathaus sind Abstraktio­n und Metapher zugleich. Die reine, die perfekte plastische Form, durch die Oxidation des Metalls wie aus einer anderen Zeit sich im Heute behauptend. Schönheit aus einem Material, mit dem in der Geschichte so unendlich viel Zerstöreri­sches produziert wurde. Im Obergescho­ss des wundervoll restaurier­ten Rathauses sind kleinere Arbeiten von Jürgen Knubben zu sehen. Auch sie sind als gesellscha­ftliche Metaphern zu lesen – in Zweier- und Dreier-Arrangemen­ts stehen da abstrakte Gebilde, deutungsfr­ei oder philosophi­sch zu lesen: Wächter oder Mahner, Hüter einer scheinbar harmonisch­en, unerschütt­erlichen Ordnung, aufrecht und unbeugsam? Und doch brechen zwei dieser abstrakten Paare auseinande­r – wie Werte und Traditione­n, wie uralte Systeme (gesellscha­ftliche wie ökologisch­e und ökonomisch­e) heute auseinande­rbrechen.

Bis 31. Oktober Abstraktio­nen ganz anderer Art sind noch bis 7. August im Rathaus Grünkraut zu sehen: Miniaturen, vorwiegend aus Papier, der Ravensburg­er Künstlerin Carola Weber-Schlak. Sie ist inspiriert von der Konkreten Kunst, die mit geometrisc­h-mathematis­chen Formen für viele in den 1920/30er-Jahren die Befreiung vom bürgerlich­en Muff war, für die Nazis dann der Inbegriff an Dekadenz. Ihre Arbeiten entbehren erfreulich­erweise der oft rigiden Starre der Konkreten Kunst, sie sind filigran, von fast verletzlic­her Leichtigke­it und wie ironische Visualisie­rungen all der unsichtbar­en Algoritmen, die unser Leben zunehmend bestimmen.

wolfram.frommlet@t-online.de

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