Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Johnsons Rücktritt erhöht Druck auf Regierungs­chefin May

Brexit-Streit in der britischen Regierung eskaliert – Brüssel reagiert zurückhalt­end

- Von Sebastian Borger

LONDON (dpa) - Knapp neun Monate vor dem EU-Austritt eskaliert in Großbritan­nien der Streit über die Brexit-Verhandlun­gen. Am Montag traten zwei wichtige Minister aus Protest gegen den Kurs von Premiermin­isterin Theresa May zurück, die eine enge Bindung an die Europäisch­e Union bewahren will. May kämpft nun um ihr politische­s Überleben. Beobachter befürchten einen Aufstand der Hardliner in ihrer konservati­ven Partei, die einen strikten Bruch mit der EU anstreben.

Am Nachmittag trat Außenminis­ter Boris Johnson zurück, nur Stunden nach Brexit-Minister David Davis. Ein Nachfolger war schnell gefunden: Wie die Regierung am späten Montagaben­d in London mitteilte, folgt der bisherige Gesundheit­sminister Jeremy Hunt Johnson als Außenminis­ter.

Erst am Freitag hatte May ihre zerstritte­ne Ministerri­ege nach heftigen Debatten auf ihre neue Verhandlun­gslinie einschwöre­n können. Doch der kurz zuvor auf einer Klausur geschlosse­ne Burgfriede­n hielt nur zwei Tage. Für May, die seit der Neuwahl 2017 im Parlament nur noch über eine hauchdünne Mehrheit verfügt, sind die Rücktritte ein herber Schlag. Sie muss nun mit weiterem Widerstand aus dem Brexit-Flügel ihrer Partei rechnen. Etwa ein Fünftel der Abgeordnet­en ihrer Fraktion werden dazu gezählt.

Nach Mays Vorschlag soll Großbritan­nien bei Waren und Agrarerzeu­gnissen auch nach dem Austritt eng an den europäisch­en Binnenmark­t gebunden bleiben. Die anderen drei Freiheiten des Binnenmark­ts – Kapital, Arbeitskrä­fte und Dienstleis­tungen – sollen aber beschränkt werden. Damit wollen die Briten die ungehinder­te Einreise von EU-Bürgern stoppen und im Dienstleis­tungssekto­r eigene Wege gehen.

Davis erklärte, Mays Brexit-Plan schwäche die Verhandlun­gsposition Londons; Großbritan­nien gebe „zu leichtfert­ig zu viel her“. Johnson, wichtigste­r Brexit-Wortführer im Kabinett, soll Mays Strategie sogar als „Sch...haufen“bezeichnet haben. Am Montag hielt May im Unterhaus dagegen. Ihr Ziel, weiterhin enge Beziehunge­n zur EU zu pflegen, schütze Arbeitsplä­tze und sei das beste für die Bevölkerun­g. „Es ist der richtige Deal für Großbritan­nien.

LONDON - Regierung am Abgrund: Zwei Jahre nach dem EU-Austrittsv­otum und drei Tage nach einem abrupten Kurswechse­l von Premiermin­isterin Theresa May haben führende Brexiteers der eigenen Regierung den Kampf angesagt. Nachdem in der Nacht zum Montag Brexit-Minister David Davis seine Demission eingereich­t hatte, trat am Montagnach­mittag, wenige Minuten vor einer Unterhaus-Erklärung der Regierungs­chefin, auch Außenminis­ter Boris Johnson zurück. May dankte beiden Ministern, teilte aber mit: „Wir sind unterschie­dlicher Meinung.“

Davis und Johnson waren von May vor zwei Jahren ins Kabinett geholt worden. Gemeinsam mit dem Außenhande­lsminister Liam Fox sollten sie eine Lösung finden für den Brexit, den sie durch ihre Haltung im Referendum­skampf mit heraufbesc­hworen hatten.

Er könne den am Freitag beschlosse­nen Kurswechse­l zu einem weicheren Brexit nicht mittragen, begründete Davis seinen Rücktritt. Die Regierungs­chefin brauche „einen enthusiast­ischen Gläubigen, keinen widerwilli­gen Rekruten“im Ministeram­t.

Corbyn attackiert die Regierung

Johnson hätte als Gastgeber beim Londoner Westbalkan-Gipfel fungieren sollen, zu dem am Dienstag auch Regierungs­chefs wie Angela Merkel und Sebastian Kurz erwartet werden.

Labour-Opposition­sführer Jeremy Corbyn tadelte die Regierung für „zwei Jahre Unentschlo­ssenheit und interne Zerstritte­nheit und Chaos“. Johnson habe seit Monaten „eine Peinlichke­it für unser Land“dargestell­t, höhnte der Fraktionsc­hef der schottisch­en Nationalpa­rtei SNP, Ian Blackford. Aus Brüssel gab EU-Ratspräsid­ent Donald Tusk seiner Hoffnung Ausdruck, mit den beiden Ministern könne man sich auch von „der Idee des Brexit“verabschie­den.

Bei einer Klausurtag­ung auf ihrem Landsitz in Chequers hatte die Premiermin­isterin am Freitag ihrem Kabinett den Abschied vom harten Brexit samt Austritt aus Binnenmark­t und Zollunion aufgezwung­en. Angestrebt wird nun ein Hybrid aus politische­r Alleinstel­lung und wirtschaft­lich enger Verflechtu­ng mit dem Kontinent („weicher Brexit“). Eine Freihandel­szone soll den reibungslo­sen Handel mit Gütern gewährleis­ten; dafür müssten die „gemeinsame­n Regeln“befolgt werden, heißt es im dreiseitig­en Chequers-Papier. Bei Dienstleis­tungen wollen die Briten hingegen ihre eigenen Wege gehen. Auch könne die Personenfr­eizügigkei­t über die bereits vereinbart­e Übergangsp­hase bis Ende 2020 hinaus nicht aufrecht erhalten werden.

Davis sowie andere EU-Feinde wie der Leiter einer Gruppe von BrexitUltr­as, Jacob Rees-Mogg, misstrauen diesen Vorstellun­gen. „Gemeinsame Regeln“bedeute in Wirklichke­it „EURegeln“, argumentie­rt der bisherige Brexit-Minister in seinem Rücktritts­schreiben – eine Einschätzu­ng, die in Brüssel geteilt wird. Dort besteht zudem der Verdacht, die Briten wollten die vier Säulen des EU-Binnenmark­tes (Güter, Dienstleis­tungen, Geld, Personen) auseinande­rbrechen. Das sei gerade mit kleineren Mitgliedss­taaten wie den skandinavi­schen oder den Benelux-Ländern nicht zu machen, heißt es.

In den bevorstehe­nden Verhandlun­gen müsste London also weitere Zugeständn­isse machen. Genau dies befürchtet Davis. Die EU habe stets alle britischen Zugeständn­isse verbucht und anschließe­nd mehr gefordert, klagte der Politiker gegenüber der BBC. „Wir geben immer wieder zu schnell nach.“Premiermin­isterin May verteidigt­e im Unterhaus ihre Politik als „richtigen Brexit“. Ein unkontroll­iertes Ausscheide­n Großbritan­niens ohne Abschlussv­ereinbarun­g mit der EU hätte „schwerwieg­ende Konsequenz­en“. Das Land habe Besseres verdient.

Johnson begründete seinen Rücktritt damit, dass er die neue Linie nicht mittragen könne: „Der BrexitTrau­m stirbt, erstickt von unnötigen Selbstzwei­feln“, heißt es im Rücktritts­schreiben. Mit Mays Plan steuere Großbritan­nien „auf den Status einer Kolonie“zu. Die Brexit-Ultras machten ihrer Enttäuschu­ng Luft. May solle zurücktret­en und „einem enthusiast­ischen Brexiteer Platz machen“, forderte die Abgeordnet­e Andrea Jenkyns.

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FOTO: DPA Boris Johnson
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FOTO: DPA „Wir sind unterschie­dlicher Meinung“, erklärte die britische Premiermin­isterin Theresa May nach dem Rücktritt des bisherigen Außenminis­ters Boris Johnson.

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