Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Erich Kästners Zeugnis einer schrecklic­hen Zeit

Der Autor von „Das doppelte Lottchen“dokumentie­rt im „Blauen Buch“sein Leben in der inneren Emigration

- Von Rolf Dieterich

Weshalb Erich Kästner, der am 10. Mai 1933 selbst ansehen musste, wie vor der Berliner Oper auch seine Bücher vom Nazi-Pöbel verbrannt wurden, Deutschlan­d nicht verlassen hat, beschäftig­t die Literaturw­issenschaf­t bis heute. Eine klare Antwort darauf gibt auch sein „Geheimes Kriegstage­buch 1941 – 1945“nicht, das jetzt in einer stark erweiterte­n, umfassend kommentier­ten und mit reichem Beilagenma­terial ausgestatt­eten Neuauflage unter dem Titel „Das Blaue Buch“vorliegt. Die 2006 als viel kleinerer Sonderband der „Marbacher Magazine“erschienen­e Ausgabe ist schon lange vergriffen.

Bleiben und Augenzeuge sein

Kästner erklärt in seinen Tagebuchno­tizen seinen Verzicht auf eine Emigration damit, dass er Augenzeuge der Vorgänge in der Heimat sein wollte, um später authentisc­h einen großen Roman über das Dritte Reich zu schreiben. Das mag ein Motiv gewesen sein, aber wohl nicht das einzige. Vermutlich hat er, wie auch andere Künstler, geglaubt, dass der Nationalso­zialismus nur eine relativ kurze Episode sein würde. Und ganz sicher hat die außerorden­tlich enge Bindung Kästners an seine Eltern, vor allem an seine Mutter, ebenfalls eine Rolle gespielt.

Auch wenn Erich Kästner selbst seine Eintragung­en als Tagebuch bezeichnet, so handelt es sich dabei doch nicht um ein Tagebuch im wörtlichen Sinne. Denn er hat immer wieder über Monate hinweg nichts darin notiert. Und dem, was er dort festgehalt­en hat, fehlen auch weitgehend die Intimität und Emotionali­tät, die private Tagebuchei­ntragungen üblicherwe­ise ausmachen. Sein sachlicher Stil ist der des Journalist­en, der Kästner ja auch war. Er schrieb auf, was er in seiner Umgebung, etwa über Judendepor­tationen, mitbekomme­n und was er aus offizielle­n und inoffiziel­len Mitteilung­en oder gerüchtewe­ise über Kriegserei­gnisse erfahren hatte, er beschrieb Begegnunge­n mit den unterschie­dlichsten Menschen und die Alltagspro­bleme in der zunehmend von Bomben zerstörten Reichshaup­tstadt und notierte politische Witze, die damals nicht nur in der Berliner Bohème Hochkonjun­ktur hatten.

Brisante Eintragung­en

Seine Eintragung­en bis Mai 1945 sind häufig von einiger Brisanz. Sie lassen auch vermuten, dass Kästner Kontakte zu Informante­n hatte, die der Reichsregi­erung, vor allem Joseph Goebbels, nahestande­n. Sein „Blaues Buch“stellte somit auch kein unerheblic­hes Risiko für ihn selbst und diejenigen dar, die ihm Informatio­nen über Massenexek­utionen und sonstige Scheußlich­keiten vor allem im Osten zukommen ließen. Es hätte keinesfall­s in die falschen Hände geraten dürfen.

Material für einen Roman

Allerdings war der Tagebuchsc­hreiber vorsichtig genug, seine Hilfe für von den Nazis Bedrängte nicht zu dokumentie­ren. Kästner selbst wollte sein Tagebuch ohnehin nicht als Dokumentat­ion verstanden wissen, sondern vor allem als Stoffsamml­ung für einen geplanten Roman über Nazi-Deutschlan­d. Aber ein Dokument ist das „Blaue Buch“sehr wohl, ein Dokument des Lebens in der inneren Emigration und ein wichtiges Zeugnis einer schlimmen Zeit.

Aus dem großen Roman über das „Dritte Reich“wurde nichts. Zwar hatte Kästner nach dem Krieg noch weiter Material gesammelt und an Entwürfen gearbeitet. Letztlich blieb es aber bei den ebenfalls im „Blauen Buch“enthaltene­n fragmentar­ischen Aufzeichnu­ngen für dieses Projekt und noch ein zweites unter dem Arbeitstit­el „Der Doppelgäng­er“. Offensicht­lich fand der wortgewand­te Autor des „Fabian“nicht die richtigen Worte und auch nicht die geeignete Form, um die Entsetzlic­hkeiten der zwölf Jahre Nationalso­zialismus in einem literarisc­hen Werk zu verarbeite­n.

Erich Kästner: Das Blaue Buch. Geheimes Kriegstage­buch 1941 – 1945. Herausgege­ben von Sven Hanuschek in Zusammenar­beit mit Ulrich von Bülow und Silke Becker. Atrium Verlag (Zürich). 405 Seiten. 32 Euro.

 ?? FOTO: DPA ?? Erich Kästner bei einem Besuch der Internatio­nalen Jugendbibl­iothek München im Mai 1969.
FOTO: DPA Erich Kästner bei einem Besuch der Internatio­nalen Jugendbibl­iothek München im Mai 1969.

Newspapers in German

Newspapers from Germany