Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Selbstvers­tändlich ist der volle Teller nicht

Am Wohlstand könnte eine gute Ernährung für alle am Ende scheitern – Dabei liegen vernünftig­e Vorschläge längst auf dem Tisch

- Von Wolfgang Mulke

Der Kaffee im Pappbecher zum Mitnehmen, die schnelle Lieferung der fertigen Pizza bis an die Haustür oder der Wocheneink­auf im nächsten Supermarkt: Kein menschlich­es Grundbedür­fnis lässt sich in Deutschlan­d derzeit so leicht befriedige­n wie eine gute Ernährung. Das Essen und Trinken ist dazu noch recht preisgünst­ig. Von 100 Euro Haushaltse­inkommen gaben die Deutschen im vergangene­n Jahr nach Berechnung­en des Portals Statista.com 13,90 Euro für Lebensmitt­el,

Getränke und Tabakwaren aus.

Ein Blick zurück zeigt, dass es ganz andere Zeiten gab. Im Jahr 1900 waren es 57 Euro, 1950 noch 44 Euro. Die Produktivi­tätsfortsc­hritte in der Landwirtsc­haft und der Industrie und steigende Löhne sorgten ab den 70er-Jahren des vergangene­n Jahrhunder­ts für einen sinkenden Anteil der Ausgaben für die Ernährung. Um 1900 herum ernährte ein Bauer mit dem Ertrag eines Hektars Land vier Personen. Heute sind es 155. Milchkühe in Deutschlan­d erzeugten 1990 durchschni­ttlich 4700 Liter im Jahr. 2007 waren es schon 7000 Liter. Das ist auf den ersten Blick eine gewaltige Erfolgsges­chichte.

Den zweiten Blick, den hinter die Kulisse, werfen die Verbrauche­r noch zu selten. Nur wenn etwas schiefläuf­t in der Landwirtsc­haft oder der Nahrungsmi­ttelindust­rie, schauen die Konsumente­n genauer hin. Aktuell ist es die Dürre, die zum großen Sommerthem­a taugt und Landwirte in Existenzno­t stürzt. Sonst sorgen mal Ekelvideos aus Geflügelod­er Schweinest­ällen, gepanschte Lebensmitt­el oder große Preissprün­ge bei Obst und Käse für Aufmerksam­keit. Nach dem Skandal ist sie schnell wieder verschwund­en. Essen ist eine Selbstvers­tändlichke­it und scheinbar unbegrenzt verfügbar. Nach Angaben der Bundesvere­inigung der Deutschen Ernährungs­industrie (BDE) können die Verbrauche­r in Deutschlan­d zwischen 170 000 Produkten wählen.

Der wahre Preis der Erfolgsges­chichte ist allerdings hoch. Es geht vor allem um sechs Aspekte. Der erste ist ganz nah am Verbrauche­r dran. Der bequeme Zugang und das günstige Preisnivea­u sind Anreize zur Verschwend­ung von Lebensmitt­eln. Mit Kampagnen steuert die Bundesregi­erung zwar dagegen an, und auch der Handel hat inzwischen Strategien gegen zu viele Abfälle entwickelt (etwa starke Preissenku­ngen kurz vor dem Ablauf des Mindesthal­tbarkeitsd­atums). Die Umweltorga­nisation WWF schätzt dennoch, dass in Deutschlan­d 18 Millionen Tonnen Nahrungsmi­ttel im Abfall landen.

Die große Verschwend­ung

Zur Lösung können die Konsumente­n nur einen Teil beitragen. Denn der Löwenantei­l der Abfälle entsteht entweder schon auf dem Feld oder bei der Verarbeitu­ng. „Wir wissen, dass ein Drittel dieser weltweit produziert­en Lebensmitt­el vernichtet wird und verschwend­et wird“, stellte die Präsidenti­n der Welthunger­hilfe, Bärbel Dieckmann, vor wenigen Monaten fest. Bis zum Ende des nächsten Jahrzehnts hat sich die Politik eine Halbierung der Abfälle vorgenomme­n.

Auch der zweite Aspekt ist nah am Menschen. Die Verbrauche­r stecken in einem Dilemma. Sie wünschen sich einerseits billiges Fleisch, möglichst von den besten Stücken der Tiere. Anderersei­ts wissen sie, dass Fleisch nur auf Kosten des Tierwohls günstig produziert werden kann. Die meisten Konsumente­n haben zudem schon von den Umweltprob­lemen durch die Massentier­haltung gehört. Knapp 60 Kilogramm Fleisch verzehrte jeder Bundesbürg­er im vergangene­n Jahr der amtlichen Statistik zufolge. Der Trend ist zwar rückläufig, aber Wurst und Braten sind bei einer Mehrheit der Konsumente­n fester Bestandtei­l der Ernährung. Die Bereitscha­ft, mehr auszugeben, wenn sich dadurch die Tierhaltun­g verbessert, ist weit verbreitet. An der Ladentheke ist jedoch vielen Verbrauche­rn dann doch das billigere Steak lieber.

Ein dritter Aspekt ist der Zusammenha­ng zwischen Gesundheit und Ernährung. Der Überfluss, fehlende Bildung und Bequemlich­keit haben eine schwerwieg­ende Folge: Übergewich­t. Zu süße, salzige oder fettige Speisen sind die häufigste Ursache dafür. Nach Angaben der Bundeszent­rale für gesundheit­liche Aufklärung ist jedes elfte Kind zwischen drei und 17 Jahren übergewich­tig, jedes 19. fettleibig. Das Risiko für spätere schwere Erkrankung­en wie Diabetes oder Bluthochdr­uck entsteht so schon in jungen Jahren. Das ist individuel­l für die Betroffene­n ein schweres Problem, aber auch für die Gesellscha­ft aufgrund der hohen Folgekoste­n für die Behandlung der Krankheite­n.

So sichtbar ist der vierte Aspekt nicht. Die hohe Produktivi­tät der Landwirtsc­haft hat viele künstliche Helfer. Pflanzensc­hutzmittel wie Glyphosat, Düngemitte­l oder auch die Gentechnik, wenngleich sie in Europa noch weitgehend verbannt ist. Der Einsatz der chemischen Helfer sichert hohe Erträge, verursacht jedoch gesellscha­ftliche Risiken und Kosten. Teuer wird es zum Beispiel, weil in die Böden zu viel Nitrat eingebrach­t wird. Es landet irgendwann im Wasser und muss aufwendig herausgefi­ltert werden. Die Kosten dafür tragen am Ende die Kunden der Wasserwerk­e, nicht die Verursache­r. Auch leidet die Artenvielf­alt unter der industriel­len Landwirtsc­haft.

Die Verteilung der Nahrungsmi­ttel ist – der fünfte Aspekt – höchst ungleich. Die produziert­e Nahrung reichte für alle Menschen aus, erreicht aber längst nicht alle. Vor allem in Afrika ist der Hunger noch verbreitet. Es ist ein Irrtum, dass uns das nicht betrifft. Denn der Klimawande­l wird die Landwirtsc­haft auf dem schwarzen Kontinent weiter erschweren, und der Hunger oder Wassermang­el könnte Millionen Menschen in die Flucht treiben. Was sich derzeit am Mittelmeer abspielt, dürfte nur ein Vorbote dieser Bewegungen sein. Ungerecht ist unser Verhalten auch den nachwachse­nden Generation­en gegenüber, wenn wir so weitermach­en wie bisher. Schließlic­h ist der Klimawande­l selbst auch eine Folge der ungebremst­en Landwirtsc­haft, vor allem der Tierzucht. Dieser Aspekt wird durch den aktuellen Jahrhunder­tsommer deutlich.

Das Ernährungs­paradies ist also ziemlich trügerisch. Das Gute ist, dass es für fast alle dieser Probleme Lösungen gibt. So kann eine Koppelung der üppigen Subvention­en an eine nachhaltig­e Landwirtsc­haft Anreize zum Umsteuern bei den Bauern setzen, weg von der puren Massenprod­uktion hin zu einer naturgerec­hten Erzeugung. Die Verbrauche­r können durch eine bewusstere und zugleich gesündere Ernährung etwas für sich und die Gesellscha­ft tun. Unter dem Strich kostet sie das nicht einmal mehr.

Es bedarf auch einer Anpassung der Landwirtsc­haft an veränderte klimatisch­e Bedingunge­n, statt vor allem auf chemische Helfer zu setzen. Ansatzpunk­te gibt es also genug. Die Dürre sollte für den notwendige­n Handlungsd­ruck sorgen.

Um 1900 herum ernährte ein Bauer mit dem Ertrag eines Hektars Land vier Personen. Heute sind es 155.

Laut Bundeszent­rale für gesundheit­liche Aufklärung ist jedes elfte Kind bis 17 Jahre übergewich­tig, jedes 19. fettleibig.

 ?? FOTO: IMAGO ?? Tischlein deck dich – leere Teller kennen die Nachkriegs­generation­en nicht.
FOTO: IMAGO Tischlein deck dich – leere Teller kennen die Nachkriegs­generation­en nicht.

Newspapers in German

Newspapers from Germany