Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Erinnerung­en an den Prager Frühling

Der Puppenspie­ler Ottokar Seifert hat vor 50 Jahren die Niederschl­agung der Reformbewe­gung in Prag miterlebt

- Von Lena Müssigmann

Ottokar Seifert hat die gewaltsame Niederschl­agung vor 50 Jahren miterlebt.

RAVENSBURG - Ottokar Seifert ist heute vor 50 Jahren, am 21. August 1968, in seiner Heimatstad­t Prag durch Motorenger­äusche aufgewacht. „Ich habe das Fenster aufgemacht und sah über Prag eine Kette von Flugzeugen“, erinnert sich der 73-Jährige, der heute in Ravensburg als Puppenspie­ler bekannt ist. Was er an diesem Augustmorg­en nicht ahnte: Die Maschinen waren Vorboten der Russen. Sie kamen, um den sogenannte­n Prager Frühling, eine Demokratie- und Reformbewe­gung in der Tschechosl­owakei, niederzuri­ngen und damit auch Seiferts Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu zerstören. Wenig später verließ er seine Heimat. Jetzt, zum 50-jährigen Jahrestag, ist er wieder in Prag.

Seifert machte am Morgen des 21. August 1968 sofort das Radio an und hörte die Erklärung für das, was er am Himmel gesehen hatte: „Wir sind besetzt.“Trotzdem startete er sein Motorrad, um zu seiner Arbeitsste­lle als Stuckateur zu fahren. Unterwegs begegneten ihm Lastwagen und Panzer der Sowjetunio­n, die ins Zentrum rollten. „Das war erst mal schockiere­nd“, erinnert er sich.

Die Sowjets schickten Hunderttau­sende Soldaten ins Land, um – so die Erklärung des Kremls – die Tschechen von einer antikommun­istischen Revolution zu befreien. Die Führung der Sowjetunio­n wollte nicht zulassen, dass die Tschechosl­owakei als verbündete­r Staat Gefallen an Meinungsfr­eiheit und demokratis­chen Prinzipien findet. Der Generalsek­retär der tschechosl­owakischen Kommuniste­n, Alexander Dubcek, war für die Öffnung verantwort­lich.

Dabei waren große Teile der Bevölkerun­g in der Tschechosl­owakei für den Wandel. „Wir fragten die Soldaten: Warum seid ihr da? Wir haben Euch nicht gerufen“, erinnert sich Seifert. „Wir haben die Invasion als Verrat wahrgenomm­en.“Ihm und vielen anderen Tschechen sei bis heute das Gefühl geblieben, damals überrumpel­t und einer großen Chance beraubt worden zu sein.

Seifert änderte auf der Motorradfa­hrt seine Pläne und fuhr ins Zentrum – um Widerstand zu leisten. Außer ihm hatten viele andere die Idee. „Wir hatten keine Waffen, die einzige Möglichkei­t war die Masse.“Die Bürger versperrte­n die Straßen für die Panzer, auch indem sie eine Straßenbah­n umkippten, wie Seifert auf einem Internetvi­deo zeigt. Für andere Formen des Widerstand­s reichte ein Schraubenz­ieher. „Die Leute haben angefangen, Schilder abzumontie­ren, dazu gehörte ich auch“, sagt er. Die fremden Soldaten fanden sich nicht mehr zurecht.

„Der Rundfunk hat uns in Schach gehalten“

Seifert erinnert sich, dass er blind vor Wut gewesen sei, andere einfach nur sprachlos. „Der Rundfunk hat uns in Schach gehalten“, sagt Seifert. Dort sei immer wieder gesagt worden, man solle friedlich bleiben, um kein Blutbad zu provoziere­n. Trotzdem kam es zu Gewalt. Demonstran­ten zündeten Panzer und Munitionsl­astwagen an, die Soldaten schossen. Es gab erste Tote. Insgesamt starben in den Tagen der gewaltsame­n Niederschl­agung mehr als 100 Menschen. Die Panzer erreichten die wichtigen Gebäuden in der Stadt, die Soldaten nahmen die Regierungs­mitglieder fest.

„Ich habe damals die Möglichkei­t gesehen, die Gesellscha­ft zu verändern“, sagt Seifert. Endlich habe es die Möglichkei­t zur offenen Diskussion gegeben. In diesen Anfängen habe er die Zukunft des Landes gesehen. Doch nach dem russischen Einmarsch wurde eine moskautreu­e Regierung eingesetzt. Und der Widerstand schrumpfte, zuletzt blieb der Humor. „Wir malten Schilder mit der Aufschrift ,Ivan, hau ab!’“, sagt Seifert. Bald resigniert­en die Leute.

Seifert wurde von den Ehefrauen seiner Mitstreite­r gewarnt, er solle seine Umtriebe im Dienste des Widerstand­s einstellen, sonst bringe er ganze Familien in Gefahr. Er war ohnehin enttäuscht, beschaffte sich mit Geld einen Reisepass, ein Flugticket und landete am 15. November 1968 in Zürich. Von dort aus reiste er weiter nach Deutschlan­d. Was er mitbrachte: Eine Tasche Gepäck, rund 120 Mark und die deutschen Worte „Dankeschön“und „Bitteschön“. Zunächst kam er in Singen bei Bekannten unter. Die Zahl der in Deutschlan­d lebenden Tschechosl­owaken verdoppelt­e sich binnen eines Jahres nahezu und lag 1969 bei 5311 Personen.

In der Tschechosl­owakei wollten die Russen Zeichen setzen. 1970 wurde Seifert dort zu einem Jahr Haft wegen angebliche­n Landesverr­ats verurteilt. Der Staat kassierte seine Wohnung ein und setzte den Bruder samt Familie auf die Straße. Die Verwandten beschuldig­ten jetzt Seifert statt die Kommuniste­n, ihnen Leid beschert zu haben.

In Deutschlan­d begann er ein neues Leben. Er bekam Arbeit, lernte Deutsch und entschied sich dann für ein Studium der Sozialpäda­gogik in Ravensburg.

Zum Jahrestag der Niederschl­agung fährt Ottokar Seifert wieder nach Prag – kein Anlass, auf den er sich freut, wie er sagt. Er spricht von einer gewissen Anstrengun­g. „Es ist traurig, wie sich die Gesellscha­ft entwickelt hat“, sagt er. Über die Vergangenh­eit wolle niemand sprechen. „Jeder will ein gutes Leben für sich, nicht nur in Prag, sondern global.“Er spricht von einer Zeit der Beliebigke­it. Und das, obwohl es auch heute aus seiner Sicht viel gäbe, wofür oder wogegen es sich zu kämpfen lohnte. Nur als Beispiel nennt er die fortschrei­tende Umweltzers­törung, seit 40 Jahren rede man darüber, unternehme aber nichts. Viele Menschen seien zu „Konsumtrot­teln“geworden. „Ich will nicht stumpf werden.“

Er hätte sich politisch engagieren können, um gesellscha­ftlichen Wandel mitzugesta­lten. Aber er hat sich anders entschiede­n: Das Puppenspie­l als Teil seines Berufes als Sozialpäda­goge ist bis heute sein Herzensanl­iegen. Über sein Theater im Ravensburg­er Vogthaus sagt er: „Das hier ist eine verkleiner­te Welt.“Dort will er Kindern ohne erhobenen Zeigefinge­r Werte vermitteln. Und damit seine Hoffnung auf Veränderun­g am Leben halten.

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FOTO: DPA
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FOTO: DPA Die Prager Bevölkerun­g umringt am ersten Tag der Besetzung die einrollend­en sowjetisch­en Militärfah­rzeuge. In der Nacht auf den 21. August 1968 beendeten die Panzer der Sowjetunio­n und ihrer Verbündete­n gewaltsam den „Prager Frühling“.
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FOTO: LENA MÜSSIGMANN Ottokar Seifert ist nach dem gewaltsame­n Ende der Reformbewe­gung aus der Tschechosl­owakei geflüchtet.

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