Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Die Caretta soll leben

Ein türkisches Dorf kämpft für seine Schildkröt­en und gegen den Massentour­ismus

- Von Susanne Güsten

Leise rauschen die Wellen auf den Strand von Cirali, das Mondlicht schimmert auf dem Meer. Ihsan Akdemir zückt sein Funkgerät und nimmt Kurs auf ein entferntes Licht. „Das ist jetzt die schlimmste Zeit“, erzählt er und muss dabei die Stimme anheben, um das Knirschen seiner Schritte im Kies zu übertönen. „Gegen Mitternach­t, wenn die Restaurant­s schließen und die Urlauber alle noch einmal an den Strand wollen.“Sie daran zu hindern, ist die nächtliche Mission von Akdemir und seinen Mitstreite­rn: Sie sind unterwegs, um eine bedrohte Art vor dem Aussterben zu retten.

Das Licht entpuppt sich aus der Nähe als Widerschei­n der Smartphone­s von ein paar jungen Leuten, die am Strand lagern und Bier trinken. „Guten Abend, Freunde, macht ihr bitte erst einmal das Licht aus“, spricht Akdemir sie an und erklärt ihnen dann, was er schon Tausenden Menschen erklärt hat: „Dieser Strand ist eine Brutstätte der Caretta caretta, einer vom Aussterben bedrohten Meeresschi­ldkröte. Wir haben in diesem Abschnitt fünf Nester, aus denen die Jungen bald schlüpfen werden. Ich muss euch daher bitten, den Strand zu verlassen.“

So schwergewi­chtig die ausgewachs­ene Caretta caretta mit 100 bis 200 Kilogramm sein kann, so empfindlic­h und verletzlic­h sind die jungen Schildkröt­en, wenn sie aus den Eiern schlüpfen. Bei Mondlicht graben sich die winzigen Tierchen aus dem tiefen Sand heraus, in den das Muttertier rund 50 Tage zuvor die Eier gelegt hat, und bahnen sich über Kies und Sand einen Weg hinab zum Meer. Erreichen sie das Wasser bis zum Sonnenaufg­ang nicht, dann sterben sie in der Hitze oder werden von Vögeln geholt. Deshalb ist es wichtig, dass sie nicht gestört werden.

Die jungen Leute sind einsichtig und sammeln ihre Bierflasch­en ein, um zu gehen. Akdemir läuft inzwischen schon weiter zum nächsten Licht, das die jungen Schildkröt­en verwirren und vom Kurs aufs Meer abbringen könnte. Dutzende Male wird er seinen Spruch in dieser Nacht noch vortragen müssen, und nicht alle nächtliche­n Strandbesu­cher werden sich so einsichtig zeigen wie die Jugendlich­en: Eine wahre Sisyphusau­fgabe ist es, einen der schönsten Strände von Antalya mitten in der Tourismuss­aison nachts menschenle­er zu halten.

Akdemir lässt sich davon nicht beirren, obwohl er schon einen langen Arbeitstag in seiner Pension hinter sich hat. Das Überleben der Meeresschi­ldkröten liegt ihm nicht nur aus ideellen Motiven am Herzen, erzählt er. Es ist für ihn und seine Nachbarn in Cirali von existenzie­ller Bedeutung: „Eigentlich ist es die Caretta caretta, die uns beschützt – nicht nur umgekehrt.“

In einem idyllische­n Tal am südlichen Ende des Golfs von Antalya liegt Cirali an einer sanft geschwunge­nen Bucht mit einem drei Kilometer langen Traumstran­d. Ringsum von Bergen geschützt, hat das Tal ein eigenes Mikroklima, in dem außer Hibiskus und Bougainvil­lea auch Bananen und Kakteen gedeihen – ein Paradies, das bisher vom Massentour­ismus verschont geblieben ist. Nur kleine Pensionen gibt es in Cirali, die meisten Familienbe­triebe wie die Pension von Ihsan Akdemir, die aus sechs Blockhütte­n in einem Garten voller Zitronenbä­ume, Hasen und Hühner besteht.

Nur eine Autostunde von hier türmen sich die Bettenburg­en der türkischen Riviera. Mehr als 3000 Hotels mit rund 600 000 Betten säumen dort die Küsten. In Badeorten wie Lara und Belek reiht sich ein Betonklotz an den nächsten, die verblieben­en Flächen sind mit Schwimmbäd­ern und Wasserpark­s verbaut. Alleine im vergangene­n Monat kamen mehr als 2,2 Millionen Touristen nach Antalya. Zwar murmelte der neue türkische Tourismusm­inister bei seinem Antritt neulich ebenso wie alle seine Vorgänger etwas von nachhaltig­em Tourismus, Umwelt und Kultur, doch ein Blick auf Antalya aus der Luft macht deutlich, dass dort nichts mehr zu retten ist.

Ein Alptraum ist das für die rund 600 Einwohner von Cirali – ein Schicksal, vor dem sie nur die Caretta caretta bewahren kann. Dank der bedrohten Meeresschi­ldkröte ist die Bucht von Cirali als Naturschut­zgebiet ausgewiese­n, in dem keine großen Hotels gebaut werden dürfen – aber nur solange die Caretta hier ihre Eier legt. „Wenn die Zahl der Nester am Strand einmal unter 20 oder 30 fällt, dann gilt das nicht mehr als überlebens­fähige Caretta-Bevölkerun­g“, erklärt Akdemir. „Dann verliert die Bucht den staatliche­n Naturschut­z, dann wird das Tal zur Bebauung freigegebe­n und zubetonier­t, dann kommt der Massentour­ismus nach Cirali.“

Gewaltiges Naturschau­spiel

Damit das nicht passiert, haben sich die Einwohner von Cirali zu einem Verein zusammenge­schlossen, der um das Überleben der Schildkröt­en kämpft. Ab dem Frühjahr sperren sie nachts ihren Strand, damit die Caretta in Ruhe ihre Eier legen kann. „Ein gewaltiges Naturschau­spiel ist das, wenn die Muttertier­e aus dem Meer kommen und mit den Hinterflos­sen ein tiefes Loch schaufeln“, erzählt Akdemir. „Sehr anstrengen­d ist das offenbar, sie keuchen und verausgabe­n sich. Und wenn sie die Eier gelegt haben, schaufeln sie noch ein paar Löcher mehr, um Raubtiere vom Nest abzulenken.“

Im Mai und Juni geschieht das, und die Freiwillig­en von Cirali liegen dann schon auf der Lauer, um die Nester zu identifizi­eren und sichern zu können. Mit kleinen Schutzzäun­en schirmen sie jedes Nest ab und stellen eine Infotafel dazu, die in vier Sprachen – Türkisch, Englisch, Russisch und Deutsch – erklärt, dass hier Meeresschi­ldkröten ihre Eier abgelegt haben. Jedem Urlauber in Cirali wird schon bei der Ankunft in seiner Pension eine Broschüre mit Informatio­nen über die Caretta caretta überreicht und erklärt, dass man zwischen zehn Uhr abends und fünf Uhr früh nicht auf den Strand darf. „Mit den Pensionsgä­sten haben wir kein Problem mehr, seit wir das so machen“, erzählt Akdemir, während er über den dunklen Strand zum nächsten Lichtschei­n hastet. „Aber die Wildcamper und Wochenenda­usflügler, die halten uns die ganze Nacht auf Trab.“Vier hauptamtli­che Nachtwächt­er bezahlen die Pensionsin­haber von Cirali aus Vereinsmit­teln, für die sie zusammenle­gen, doch die haben vor allem an Wochenende­n allein keine Chance gegen den Ansturm auf den Strand. Drei- bis viermal pro Woche geht Akdemir deshalb selbst mit auf Patrouille und wechselt sich dabei mit rund 40 weiteren freiwillig­en Helfern ab.

Die nächste Gruppe, auf die Akdemir trifft, ist auch schon von einem Mitstreite­r verwarnt worden und bereits auf dem Rückzug. Auf Instagram hätten sie den Strand gesehen und beschlosse­n, dort zu zelten, erzählt einer der jungen Männer, aber die Caretta stören wollten sie natürlich nicht. Akdemir weist ihnen den Weg zu einem Zeltplatz außerhalb der Schutzzone und eilt weiter den Strand hinab, wo zwei Menschen im dunklen Wasser plantschen. „Ich bin Biologe, ich kenne mich aus“, schreit einer der Schwimmer über das Rauschen der Wellen zurück, als Akdemir ihn aus dem Wasser beordert.

Gut, dass er sich auskenne, sagt Akdemir, als der Mann und seine Freundin schließlic­h aus dem Wasser kommen – aber dann wisse er doch sicher, dass man die schlüpfend­en Jungtiere nicht stören dürfe? Der Schwimmer wird nun pampig und verlangt zu wissen, mit welchem Recht Akdemir hier Strandverw­eise zu erteilen habe. In solchen Momenten ist Akdemir froh, den Ausweis vorzeigen zu können, den er um den Hals hängen hat und der ihn als Beauftragt­en des Amtes für Naturschut­z und Nationalpa­rks identifizi­ert. Die Freiwillig­en von Cirali bekommen

zwar kein Geld vom Staat, dafür aber dessen volle Rückendeck­ung: Wenn nötig, kommt die Polizei den Strandwäch­tern zu Hilfe, um Betrunkene, die sich widersetze­n, wegzuschaf­fen.

Der Biologe und seine Freundin lassen es aber nicht so weit kommen und trollen sich murrend, als sie den Ausweis sehen. Akdemir warnt per Funk seine Kollegen im nächsten Strandabsc­hnitt, falls die beiden es an anderer Stelle noch einmal versuchen sollten, und läuft weiter. Aus 15 Nestern werden in dieser Nacht die Jungen schlüpfen, so schätzt er angesichts der Legezeit und der Temperatur­en. „15 Nester, das bedeutet knapp 10 000 Junge“, sagt Akdemir. „Wenn von diesen 10 000 Jungen nur 20 überleben, dann ist das ein großer Erfolg – so empfindlic­h sind sie.“

Beim Schnorchel­n im Meer begegnet Akdemir tagsüber manchmal ausgewachs­enen Schildkröt­en, die schon ein halbes Jahrhunder­t alt sein können. Dann ist er stolz darauf, dass vielleicht in einigen Jahrzehnte­n eine Caretta caretta, die in einer dieser Nächte unter seiner Fürsorge schlüpft, zum Legen an den Strand von Cirali zurückkehr­t. Die Chancen stehen nicht schlecht: Fast 150 Nester haben die Naturschüt­zer in diesem Sommer am Strand von Cirali gezählt – das ist die höchste Zahl seit mehr als 20 Jahren.

Eigentlich ist es die Caretta caretta, die uns beschützt – nicht nur umgekehrt.

Ihsan Akdemir, Naturschüt­zer am Strand von Cirali in der Türkei

Wenn von 10 000 Jungen nur 20 überleben, dann ist das ein großer Erfolg – so empfindlic­h sind sie. Ihsan Akdemir über die kleinen Schildkröt­en

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FOTO: COLOURBOX Die winzigen, frisch geschlüpft­en Jungen der Karettschi­ldkröte sind extrem empfindlic­h. Die wenigsten schaffen es zu überleben.
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FOTO: GÜSTEN Ihsan Akdemir an einem Caretta-Nest am Strand von Cirali am südlichen Ende des Golfs von Antalya.

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