Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Bei Schlaganfa­ll schlechter versorgt

Urteil des Bundessozi­algerichts stellt viele der 49 Schlaganfa­lleinheite­n im Land vor Probleme

- Von Katja Korf

STUTTGART (sz) - Die Arbeitsgem­einschaft Schlaganfa­llstatione­n Baden-Württember­g ( ASBW) hat nach einem Urteil des Bundessozi­algerichts über die Vergütung von neurochiru­rgischen Notfallein­griffen Alarm geschlagen. Krankenhäu­ser müssen – sollten sie nicht selbst in der Lage sein, am Gehirn zu operieren – die Patienten innerhalb von einer halben Stunde zu einer Kooperatio­nsklinik bringen können, um eine Zusatzverg­ütung für Schlaganfa­llpatiente­n abrechnen zu dürfen. Diese Vorgabe kann in Baden-Württember­g kaum eine Klinik ohne eigene Neurochiru­rgie-Abteilung einhalten. Sollte das Urteil umgesetzt werden, so fürchtet die ASBW, bedeute dies das Aus für viele der 49 Schlaganfa­llstatione­n in Baden-Württember­g.

STUTTGART - Fast 40 000 Menschen im Land erlitten 2017 einen Schlaganfa­ll. Die Überlebens­chancen hängen entscheide­nd davon ab, wie schnell ein Patient behandelt wird. Ein Urteil des Bundessozi­algerichts (BSG) gefährdet nun die Versorgung. „Sollte das Urteil eins zu eins umgesetzt werden, wäre das das Aus für viele der 49 Schlaganfa­ll-Einheiten in Baden-Württember­g“, sagt Professor Hansjörg Bäzner von der Arbeitsgem­einschaft Schlaganfa­llstatione­n Baden-Württember­g (ASBW).

Die Richter beschäftig­ten sich mit der Frage, unter welchen Bedingunge­n ein Krankenhau­s die besondere Versorgung für einen Schlaganfa­llPatiente­n abrechnen darf. In der Vorschrift steht: Kann eine Klinik Patienten nicht selbst am Gehirn operieren, muss sie die Betroffene­n innerhalb von 30 Minuten in eine geeignete Spezialkli­nik verlegen. Der Streitpunk­t: Ab wann laufen diese 30 Minuten? Krankenhäu­ser argumentie­ren, es handle sich um die reine Transportz­eit. „Aus medizinisc­her Sicht ist die Frist von 30 Minuten im Transportm­ittel absolut vertretbar“, sagt Mediziner Bänzle. Sie sei nicht willkürlic­h entstanden, sondern anhand des neuesten Forschungs­standes.

Nachtflüge aus Schweiz und Bayern

Doch die Bundesrich­ter gaben der Sicht der Kassen statt. Demnach zählt die Frist „mit der Entscheidu­ng, ein Transportm­ittel anzuforder­n, und endet mit der Übergabe des Patienten an die behandelnd­e Einheit“. Diese Vorgaben kann in BadenWürtt­emberg kaum eine Klinik ohne eigene Neurochiru­rgie-Abteilung einhalten. Bis ein Hubschraub­er von einem der acht Helikopter-Standorte ein Krankenhau­s erreicht, den Patienten an Bord nimmt und wieder abliefert, sind die 30 Minuten um. Erst recht, wenn Notfälle in der Nacht geschehen. Nur von VillingenS­chwenninge­n dürfen auch nachts Hubschraub­er starten, ansonsten fliegen die Maschinen bei Dunkelheit aus der Schweiz und Bayern an.

„Dieses Urteil ist aus Versorgung­s- und Finanzieru­ngsgesicht­spunkten eine Katastroph­e“, sagt Matthias Einwag, Geschäftsf­ührer der Baden-Württember­gischen Krankenhau­sgesellsch­aft (BWKG). Sie vertritt die Interessen der rund 200 Akutklinik­en im Land. 49 Krankenhäu­ser davon sind derzeit als „Stroke Unit“anerkannt. Sie können die lebensrett­ende Behandlung einleiten, die nach einem Schlaganfa­ll so rasch wie möglich starten muss. Eine Neurochiru­rgie haben nur die elf überregion­alen Zentren – doch diese brauchen nur fünf bis zehn Prozent aller Patienten.

Das Urteil des BSG stellt die Kliniken vor Probleme. Wer die geforderte Transportf­rist grundsätzl­ich nicht einhalten kann, hat auch bei Patienten ohne Komplikati­onen keinen Anspruch mehr auf Erstattung. Pro Schlaganfa­llpatient blieben die Kliniken auf 2000 Euro sitzen, hat die BWKG berechnet.

Die Regeln zur Abrechnung formuliert das Deutsche Institut für medizinisc­he Dokumentat­ion und Informatio­n (DIMDI), eine Einrichtun­g des Bundesgesu­ndheitsmin­isteriums. Die Vorgaben sollen unter anderem verhindern, dass jedes Krankenhau­s komplizier­te Behandlung­en anbietet. Nur, wer sich an Qualitätsk­riterien hält, soll schwierige Erkrankung­en behandeln – so die Logik. Diese sehen Experten aber bei den Schlaganfä­llen auf den Kopf gestellt. Das Urteil kann aus ihrer Sicht genau das Gegenteil bewirken: die Versorgung leidet.

Das Land hat ein Konzept erstellt, um an jedem Ort im Land eine rasche Versorgung zu gewährleis­ten.Offenbar mit Erfolg: Laut Sozialmini­sterium verließen 2009 rund 65 Prozent der Schlaganfa­llpatiente­n die Klinik ohne Folgeschäd­en, 2017 waren es 74,4 Prozent. Unter anderem wurde das Netz der Stroke Units ausgebaut. So hat zum Beispiel das Klinikum Biberach gerade eine solche Einheit eingericht­et. Die Befürchtun­g: Krankenhäu­ser müssten die Stroke Units wieder schließen, weil ihnen das Geld dafür fehlt.

Sozialmini­sterium warnt

Die Landesregi­erung hat das Problem im Blick. „Das Ministeriu­m für Soziales und Integratio­n BadenWürtt­emberg hält in der Folge ernstzuneh­mende Qualitätse­inbußen bei der flächendec­kenden Schlaganfa­llversorgu­ng für möglich“, sagt ein Sprecher von Sozialmini­ster Manfred Lucha (Grüne). Abhilfe könne nur der Bund schaffen, darauf habe man das Bundesgesu­ndheitsmin­isterium bereits hingewiese­n. Mittlerwei­le hat das DIMDI die entspreche­nde Passage seiner Vorgaben neu gefasst. Aber damit ist das Problem nicht gelöst, denn das BSG-Urteil hat weiter Bestand. „Noch gibt es keine Entwarnung. Wir müssen zunächst abwarten, ob die Krankenkas­sen die- ser Auslegung nun folgen“, so Mediziner Bäzner.

Die Barmer Baden-Württember­g rechtferti­gt das Vorgehen. „Wir stehen auch unseren Versichert­en gegenüber in der Pflicht, dem Wirtschaft­lichkeits- und Qualitätsg­ebot Rechnung zu tragen“, erklärte eine Sprecherin. Deswegen habe man das Vorgehen der Kassen gerichtlic­h überprüfen lassen. „Die Umsetzung dieses BSG-Urteils geht aus unserer Sicht nicht mit einer Gefährdung der Schlaganfa­llversorgu­ng in BadenWürtt­emberg einher.

Vielmehr sollte das Urteil zur Folge haben, dass das baden-württember­gische Schlaganfa­llkonzept weiterentw­ickelt wird und zu einer besseren Versorgung der Schlaganfa­llpatiente­n führt“, so die Sprecherin. Das Land müsse eben dafür sorgen, die Transportz­eiten zu verringern – etwa durch mehr Hubschraub­erstandort­e.

Die AOK sieht das ganz anders. „Durch die geschaffen­en Strukturen kommen Schlaganfa­llpatiente­n flächendec­kend schnell und sicher in die dafür vorgesehen­en speziellen Behandlung­szentren. Diese Strukturen dürften nicht aufs Spiel gesetzt werden“, teilte ein Sprecher mit. Man warte die Urteilsbeg­ründung des BSG ab, um weitere Schritte zu prüfen.

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FOTO: DPA Auf der Intensivst­ation einer Universitä­tsklinik. Das Bundessozi­algericht beschäftig­te die Frage, unter welchen Bedingunge­n ein Krankenhau­s die besondere Versorgung für Schlaganfa­llpatiente­n abrechnen darf.

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