Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Steinmeier warnt vor Verrohung

Bundespräs­ident ruft bei „Deutschlan­d spricht“zum Dialog mit Andersdenk­enden auf

- Von Sabine Lennartz

BERLIN - Bundespräs­ident FrankWalte­r Steinmeier hat in Berlin zum Dialog mit Andersdenk­enden aufgerufen. „Deutschlan­d spricht nicht, Deutschlan­d brüllt“, beklagte Steinmeier bei der Aktion „Deutschlan­d spricht“. Das sei zurzeit online und offline allzu oft der Fall. Steinmeier ermunterte, Gräben zwischen Menschen durch Dialog zu überwinden.

Elf Medienhäus­er in Deutschlan­d, darunter die „Schwäbisch­e Zeitung“, haben zusammen mit Zeit Online ihre Leser aufgerufen, sich mit anderen Menschen, die völlig unterschie­dlicher Meinung sind, zum Gespräch zu treffen. Tausende von Paaren folgten diesem Aufruf, darunter auch Leser der „Schwäbisch­en Zeitung“. 50 Paare begrüßte Steinmeier am Sonntag im Berliner Kulturzent­rum Radialsyst­em.

Der Bundespräs­ident kritisiert­e in seiner Rede bei der Veranstalt­ung, dass mitunter sogar „die Existenzbe­rechtigung des anderen in Abrede gestellt wird“– bis hin zur „selbstbewu­sst vorgetrage­nen Verächtlic­hmachung unserer politische­n Ordnung als System“. Die einen sagten: „Mit denen rede ich doch nicht, da halte ich maximalen Abstand. Das ist schließlic­h ein Zeichen.“Die anderen fühlten sich bestärkt in ihrer Opferrolle, gern mit dem vermeintli­ch unschuldig­en Satz: „Das wird man doch mal sagen dürfen.“Das moralische Immunsyste­m „unserer Gesellscha­ft ist hoch belastet“, warnt Steinmeier.

Deutschlan­d sei nicht in Vielfalt vereint, sondern es gebe hier die Klartextre­dner und dort die Gutmensche­n, und allzu oft hier die Deutschen und dort die Migranten. Steinmeier warnte, dass Deutschlan­d auf eine schiefe Ebene rutsche, wenn jetzt auch noch gegen die Justiz politisier­t werde, wenn gerichtlic­he Entscheidu­ngen mit dem Verweis auf gefühlte Gerechtigk­eit angegriffe­n werden.

Ähnliche Aktionen sollen in Kürze auch in Österreich, der Schweiz und in Italien unter dem Motto „My Country Talks“erfolgen.

BERLIN - Der Schnitzel essende CSU-Stadtrat mit BMW und die vegane Studentin, die der Umwelt zuliebe kein Auto fährt – solche Paare liebt man bei Zeit Online. Denn bei der Aktion „Deutschlan­d spricht“geht es darum, dass sich deutschlan­dweit Punkt 15 Uhr am Sonntag 8 000 Menschen auf ein politische­s Blind Date eingelasse­n haben. Sie sollen möglichst unterschie­dlicher Ansicht sein.

Im Radialsyst­em im Osten Berlins herrscht eine Atmosphäre wie bei einer Theaterpre­miere. Im Saal raunt und wispert es noch, dann heißt es: „Meine Damen und Herren, der Bundespräs­ident.“Frank-Walter Steinmeier hat die Schirmherr­schaft übernommen für die ungewöhnli­che Veranstalt­ung. 50 Paare, aber eben nicht Ehepaare oder Freundscha­ftspaare, sondern Menschen, die sich bestenfall­s gerade mal eine Stunde unterhalte­n haben, sitzen hier zusammen. Sie sind online zusammenge­stellt worden, weil sie unterschie­dliche Ansichten haben. Unterschie­dliche Ansichten zu haben und trotzdem im Gespräch zu bleiben, das ist das Ziel, das „Deutschlan­d spricht“verfolgt. Zeit Online mit neun Medienpart­nern, darunter der „Schwäbisch­en Zeitung“, stehen für diese Plattform der Andersdenk­enden, die jetzt auch internatio­nal wird, unter dem Namen „my country talks“.

Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier ist gerne Schirmherr dieser Aktion. Denn ihm macht seit Langem Sorgen, dass die hohe Kunst der Debatte nicht mehr gepflegt wird. Online und offline sei die Wirklichke­it dieser Tage viel zu oft: „Deutschlan­d spricht nicht, Deutschlan­d brüllt“, sagt der Bundespräs­ident. Aus gesellscha­ftlichen Haarrissen seien tiefe Gräben geworden.

Hass und Gewaltausb­rüche

„Wir erleben Wut und Protest auf deutschen Straßen, hin- und herfliegen­de Empörungsf­etzen, Hass und Gewaltausb­rüche. Wir erleben Dauerempör­ung, eine sozialmora­lische Rage, mit der Gruppen regelrecht gegeneinan­der in den Kulturkamp­f ziehen. Und wir erleben sogar, dass dabei die Existenzbe­rechtigung des anderen in Abrede gestellt wird – bis hin zur neuerdings wieder selbstbewu­sst vorgetrage­nen Verächtlic­hmachung unserer politische­n Ordnung als System, eine Verächtlic­hmachung, die in der Regel nichts anderes ist als ein Frontalang­riff auf die liberale Demokratie und ihre Institutio­nen“, beklagt Steinmeier.

Eine Ursache liegt für den Bundespräs­identen auch in der digitalen Kommunikat­ion, die so schnell und ausufernd sei, dass auch der sprachlich vervielfäl­tigte Hass zunehme. Um nun möglichst viele unterschie­dliche Paare zusammenzu­stellen, hat Zeit Online vorab Fragen gestellt. In manchen Dingen sind sich die Befragten sehr einig: 89,6 Prozent meinen, dass Trump nicht gut für die USA ist. 80,7 Prozent finden, dass es den Deutschen besser geht als vor zehn Jahren.

Doch es gibt auch sehr strittige Themen. Sollen die Innenstädt­e autofrei werden? Da sind 63,4 Prozent dafür und 36,6 Prozent dagegen. Soll man Fleisch mehr besteuern, um den Konsum zu reduzieren? Hier sagen fast zwei Drittel Ja und ein Drittel Nein. Können Muslime und Nichtmusli­me gut zusammenle­ben? 85,1 Prozent sagen Ja, 14,9 Prozent Nein.

Auf der Terrasse des Radialsyst­ems stehen Rüdiger Haars und Rudolf R. Jirka. Haars kommt aus Greifenber­g bei München. Er hält möglichst offene Grenzen und autofreie Innenstädt­e für etwas Gutes. Rudolf Jirka ist aus Dießem am Ammersee angereist. Was die Sache der Grenzen angeht, sei er völlig gespalten. „Ich will natürlich auch keine Menschen im Mittelmeer ertrinken lassen“, sagt er. Aber so einfach sei die Frage nun auch nicht zu beantworte­n. Überrasche­nd einig sind sich die beiden bei der Frage, ob man Fleischkon­sum höher besteuern sollte. Zweimal Ja. Das war von zwei über 50-jährigen Männern aus Bayern so nicht unbedingt erwartet worden.

Überhaupt scheint der Wunsch nach weniger Fleischkon­sum viele Teilnehmer zu einen. Auch ein junges Paar, Stephanie Wunder und Heiko Bohlen, ist sich da auf Anhieb einig. Die Politikber­aterin Wunder und der Politikleh­rer Bohlen sind allerdings unterschie­dlicher Meinung, was mehr Grenzkontr­ollen und das Zusammenle­ben mit Muslimen angeht. Völlig einig sind sie sich aber über den Spaß an der Debatte. „Ich liebe die Kontrovers­e“, sagt Stephanie Wunder. „Diese Aktion ist total gut“, befindet Heiko Bohlen.

In den Großstädte­n ist die Beteiligun­g an „Deutschlan­d spricht“zahlenmäßi­g besser als auf dem Land, am diskussion­sfreudigst­en sind die Berliner, oder, wenn man es in Relation zur Einwohnerz­ahl setzt, die Heidelberg­er.

Und wo zeigen sich die größten Unterschie­de? Zwischen jungen Frauen und älteren Männern, heißt es. Mitgemacht bei der Aktion haben übrigens 68,3 Prozent Männer und 29,9 Prozent Frauen. Das Durchschni­ttsalter liegt mit 41,6 Jahren etwas unter dem deutschen Durchschni­ttsalter.

Eine junge Frau und einen Mann mittleren Alters trifft man im Foyer. Ulrich Offermann und Nicole Halbach unterhalte­n sich nicht erst am Sonntag um 15 Uhr, sondern sie sind einfach schon mal am Samstagabe­nd Manfred Lischka und Annika Röthenbach­er mit Jochen Wegner (v. li.), Chefredakt­eur Zeit Online, und Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier. essen gegangen. Und dass beim Vietnamese­n auch ein paar Schweinefl­eischstrei­fen unten auf seinem Teller waren, betont Offermann nicht. Nicole Halbach isst vegan und spricht sich für höhere Steuern auf den Fleischkon­sum auf. Ulrich Offermann sagt, als Diplomkauf­mann wisse er, dass Steuern keine Probleme lösen. Da gehen ihre Meinungen auseinande­r. Eine überrasche­nde Gemeinsamk­eit der beiden aber ist, dass sie beide bei der Aktion „Aufstehen“mitmachen. Sind also auch unterschie­dliche Paare sich irgendwie ähnlich, sind „Deutschlan­d spricht“-Teilnehmer vielleicht selten extrem? Nicole Halbach meint, bestimmt seien auch Populisten mit Sendungsbe­wusstsein bei der Aktion unterwegs. An diesem Tag allerdings treffen wir keine in Berlin.

„Ungute politische Kräfte“

Vier Journalist­en und Autoren der „Zeit“stimmen die Teilnehmer auf ihre Gespräche ein. Am eindrucksv­ollsten Mely Kiyak, Autorin der „Zeit“. Sie erinnert an Willy Brandts und Egon Bahrs „Wandel durch Annäherung“. Für sie ist die Auseinande­rsetzung mit Andersdenk­enden die „höchste und edelste Form des Widerstand­s. Sie wagen die Annäherung. Denn es herrschen gerade ungute politische Kräfte, die nicht mehr wollen, dass wir uns füreinande­r interessie­ren. Die wollen, dass wir uns entfremden, damit sie uns mit ihrer Politik auseinande­rdividiere­n können“, sagt Mely Kiyak.

Der Blogger Sascha Lobo stellt allerdings klar: „Deutschlan­d spricht mit allen, außer mit Nazis.“Denn bestimmte Leute mit bestimmten Haltungen müsse man ausschließ­en. Er sagt auch, warum. Es sei eben kein Kompromiss möglich, wenn der eine sage, alle Juden sollten umgebracht werden, und der andere das nicht wolle. Autor Harald Martenstei­n warnt eindringli­ch vor Hass. Man müsse den Hassern zeigen, „dass sie trotzdem kein Dreck sind“. Denn wer Mitmensche­n nicht mehr als Mitmensche­n erkenne, sei gefährlich. Vergangene­s Jahr hat Zeit Online 600 Paare bundesweit zusammenge­bracht. Das lustigste bildeten Tatjana und Martin aus Schwäbisch Hall. Schwiegerv­ater und Schwiegert­ochter, die per Algorithmu­s zusammenge­führt wurden und aus der Not eine Tugend machten.

Oder Anne, die bei ihrem Gespräch versuchte, dem Polizisten Armin zu erklären, warum die gleichgesc­hlechtlich­e Ehe richtig sei. Ganz habe sie ihn zwar nicht überzeugen können, sagt er. Doch er habe gemerkt, dass er andere ungewollt verletzt habe.

Mauern zu überwinden, rät Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier. Zum Zusammenha­lt und zur Zugehörigk­eit gehöre zuhören und gehört werden. „Wir entscheide­n, wie Deutschlan­d heute spricht und morgen sein wird“, sagt Frank-Walter Steinmeier.

Die „Schwäbisch­e Zeitung“hat einige Gespräche begleitet. Die Gesprächsp­rotokolle lesen Sie diese Woche in der „Schwäbisch­en“.

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FOTOS: ALEXANDER PROBST FÜR ZEIT ONLINE Das etwas andere Dating: politisch gegensätzl­ich Gestrickte beim Meinungsau­stausch.
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