Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Ein Leben auf der Warteliste

Aulendorfe­r wartet auf eine neue Lunge und äußert sich zur Organspend­epraxis in Deutschlan­d

- Von Claudia Buchmüller www.schwaebisc­he.de/werte

AULENDORF - Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) fordert derzeit vehement einen Wechsel der Gesetzesla­ge bei der Organspend­epraxis in Deutschlan­d. Weg von der Entscheidu­ngslösung hin zur Widerspruc­hsregelung. Dies würde bedeuten, dass künftig jeder Bürger automatisc­h Organspend­er ist, solange er oder seine Angehörige­n nicht ausdrückli­ch widersprec­hen.

Diese Vorgehensw­eise ist in vielen europäisch­en Ländern üblich. Spahn erklärt: „Alle acht Stunden stirbt ein Mensch auf der Warteliste, weil kein passendes Spenderorg­an gefunden wird. Das muss sich ändern!“Gegenwind bekommt der Politiker nicht zuletzt von der katholisch­en Kirche (die SZ berichtete mehrfach). Bischof Gebhard Fürst aus Rottenburg-Stuttgart: „Organspend­e ist eine besondere Form der Nächstenli­ebe und muss frei bleiben von jedem sozialen Druck.“Für den Aulendorfe­r Reiner Rudolf hat die Diskussion ein besonderes Gewicht: Er hofft selbst auf eine Spenderlun­ge.

Anfang August bekommt Reiner Rudolf (Jahrgang 1950) den erlösenden Anruf aus der Uniklinik Freiburg. „Sie stehen auf der Warteliste von Eurotransp­lant!“Damit gehört er offiziell zu den rund 400 Menschen in Deutschlan­d, die auf eine neue Lunge warten. Mit diesem Anruf steigt die Hoffnung der Familie, dass der Vater zweier erwachsene­r Söhne das Enkelkind, dessen Ankunft für November geplant ist, aufwachsen sehen darf. Ab sofort muss er jederzeit erreichbar sein, könnte doch schon das nächste Telefonkli­ngeln mit der Nachricht aus dem Transplant­ationszent­rum verbunden sein, dass ein passendes Spenderorg­an zur Verfügung steht. „Der Anruf kann jede Minute kommen, Tag und Nacht“, erklärt der Organanwär­ter. Bis dahin müsse er regelmäßig zu Untersuchu­ngen nach Freiburg. Alles in allem eine äußerst belastende Situation, trotz aller Hoffnung.

Beim Tanzen wurde die Luft knapp

2013 ging der Handelsver­treter in den Ruhestand. Nach wie vor war er sportlich aktiv, spielte Tennis und Golf. Im Jahr 2016 traten aus heiterem Himmel die ersten Krankheits­zeichen in Form von Atemnot und Schwäche auf. Der leidenscha­ftliche Tänzer kann sich noch gut daran erinnern, dass er beim Tanzen mit seiner Frau völlig ungewohnt während einer Tanzrunde aufgeben musste. Als nächstes fiel das Treppenste­igen immer schwerer. „Wir haben diese Anzeichen zuerst aufs Alter geschoben“, blickt das Ehepaar zurück. Erst als eine Bronchitis nicht heilen wollte, suchte er die Lungenfach­klinik in Wangen auf. Nach etlichen Untersuchu­ngen stand die niederschm­etternde Diagnose fest: idiopathis­che TRAUERANZE­IGEN Lungenfibr­ose – eine besonders aggressive Form der Lungenfibr­ose, mit rasch voranschre­itendem Verlauf, die sich nicht auf eine bestimmte Ursache zurückführ­en lässt.

Mittlerwei­le hat sich Rudolf weitgehend mit seiner Krankheit arrangiert. Auch, dass er 24 Stunden vom Sauerstoff abhängig ist. Sport sei leider nicht mehr möglich. Im Stadion feuert der Fußballfan trotz der enormen Einschränk­ung immer noch regelmäßig die Mannschaft­en der SGA an. Ein Sauerstoff­tank reiche gerade so für ein Spiel aus, freut er sich. Zwei dieser tragbaren Tanks bezahle die Krankenkas­se. So kann er für etwa vier bis fünf Stunden das Haus verlassen. Sein Bewegungsr­adius in und ums Haus ist auf rund zehn Meter begrenzt, so weit reicht der Schlauch des stationäre­n Gerätes.

Lange vor dem Auftreten der Krankheit hat das Ehepaar Rudolf sich mit dem Thema Organspend­e auseinande­rgesetzt und ist seit Jahrzehnte­n im Besitz eines Spenderaus­weises. „Für mich ist das ein Akt der Nächstenli­ebe“sagt Reiner Rudolf, und seine Frau nickt zustimmend. Anders sieht das der Großteil der deutschen Bevölkerun­g. Die Bereitscha­ft zur Organspend­e hat in Deutschlan­d im Jahr 2017 mit unter 800 Spendern ein absolutes Tief erreicht. Im Gegenzug warten rund 10 000 schwerkran­ke Menschen in Deutschlan­d auf diese einmalige Chance von Lebensrett­ung, Heilung oder Linderung ihrer Krankheit. „Die meisten Menschen denken doch erst an eine Organspend­e, wenn sie selbst krank werden und ihr Leben davon abhängt“, schätzt Reiner Rudolf die derzeitige Situation ein.

Betroffene­r hat klare Meinung zur Ethikdisku­ssion

Eine gesetzlich­e Änderung der Transplant­ationsmedi­zin weg von der Entscheidu­ngs- oder erweiterte­n Zustimmung­slösung, hin zur Widerspruc­hslösung, wie dies in vielen anderen Ländern üblich ist, würde er sehr begrüßen. „Damit steigt sicherlich die Zahl der Spenderorg­ane, was für die Menschen auf der Warteliste Lebensverl­ängerung, mehr Lebensqual­ität oder sogar das Überleben bedeutet“, ist der Betroffene überzeugt.

Zur Ethikdisku­ssion der katholisch­en Kirche, die die besondere Forderung der Freiwillig­keit der Organspend­e in den Vordergrun­d rückt und sich klar gegen die Widerspruc­hslösung stellt, äußert er sich abschließe­nd: „Ich hoffe, dass keiner von diesen Gegnern jemals selbst auf eine Organspend­e angewiesen ist.“

Wie stehen Sie zur Organspend­e? Haben Sie einen Spenderaus­weis und was sagen Sie zum Vorschlag einer Widerspruc­hslösung? Diskutiere­n Sie mit zum Thema Werte und Wertewande­l und schreiben Sie uns Ihre Meinungen und Erzählunge­n per E-Mail an: redaktion.waldsee@schwaebisc­he.de. Anonyme Zuschrifte­n können wir nicht veröffentl­ichen.

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FOTO: CALUDIA BUCHMÜLLER Der Aulendorfe­r Reiner Rudolf füllt am stationäre­n Tank einen seiner beiden tragbaren Sauerstoff­tanks auf.
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