Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Eine ganze Gesellschaft wird gespiegelt
Clara Immerwahr und die Dämonen eines Zeitalters in der Wilhelmsdorfer Scheune
WILHELMSDORF - Zum Weltfriedenstag am 21. September feierte das hochkomplexe Theaterstück „Immerwahr“von Sabine Friedrich in der Wilhelmsdorfer Scheune Premiere. Unter der Regie von Judith Dreyer verkörperte Birgit Zimmermann in dem Einpersonenstück die Rolle der Clara Immerwahr, hoch begabte Wissenschaftlerin und ungeliebte Ehefrau, die an ihrem „falschen“Leben zerbricht und Selbstmord begeht.
Erfinder des Chlorgiftgases
Der Text und das Stück haben eine längere Vorgeschichte. Clara Immerwahr (1870 bis 1915), erste Doktorin der Chemie und Ehefrau des Chemikers Fritz Haber, der in Zusammenarbeit mit Carl Bosch den Stickstoffdünger entwickelte und als Erfinder des im Mai 1915 in Ypern erstmalig eingesetzten Chlorgiftgases gilt, war bis zu ihrer Wiederentdeckung durch eine Biographie von Gerit von Leitner (1993) dem Vergessen anheimgefallen. 2006 nahm sich dann die Autorin Sabine Friedrich ihrer Geschichte für ein Theaterstück an und entwickelte daraus gleichzeitig einen Roman, der 2007 herauskam.
Danach gab es weitere Bearbeitungen und Beiträge wie 2014 den deutschen TV-Spielfilm „Clara Immerwahr“oder einen längeren Essay unter dem Titel „Die Perversion der Wissenschaft“in der Neuen Zürcher Zeitung 2015.
Je mehr man über das höchst sehenswerte Stück nachdenkt, desto mehr beschäftigt der historische Kontext. Das antisemitische Deutsche Kaiserreich, in dem wissenschaftliche Karrieren von Juden – beide stammten aus jüdischen Familien, konvertierten aber 1890 zum Protestantismus – boykottiert wurden, ließ Frauen nicht zum Studium zu; diese mussten langwierig um eine Sondererlaubnis kämpfen. Es herrschte eine allgegenwärtige Misogynie (krankhafter Frauenhass), was die Bildung von Frauen betraf, die das militaristische Patriarchat am liebsten in Küche und Kindbett verbannt hätte – die passende Hetzschrift dazu „Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes“lieferte der Psychiater Paul Julius Möbius im Jahr 1900.
Dieses geistesgeschichtliche Spektrum wird im Stück immer wieder durch Hintergrundstimmen, von denen Peter Hilmes die Stimme des gütigen Vaters von Clara spricht, ergänzt, während eine heute spielende Rahmenhandlung die unzähligen Zeit- und Handlungsstränge zusammenfasst. Diese besteht in der Figur der Journalistin Clara, die ein Buch über Clara Immerwahr schreiben will, selbst in einer Beziehungskrise steckt und aus schwierigen familiären Verhältnissen kommt.
Für den Wechsel von Clara II zu Clara I – als Erwachsene oder als Mädchen – genügen der souverän agierenden Birgit Zimmermann statt der roten Kunstlederjacke eine kurze Samtpelerine oder lange Schals in verschiedenen Farben. Trotz der minimalen Verwandlungspausen entsteht so eine gewisse Unruhe, und die Konzentration auf die Texte fällt manchmal schwer. Insgesamt aber bleibt man trotz der knapp zwei Stunden Aufführungsdauer gespannt dabei, denn viele Fragen, die das Stück berührt, sind in hohem Maße aktuell – man denke nur an den Einsatz von Giftgas in Syrien oder an den menschenverachtenden Karrierismus mancher Männer, wie ihn auch der überaus assimilierte jüdische Preuße Fritz Haber verkörperte. Viele eingeschobene Sentenzen finden sich im Stück, die des kritischen Nachdenkens wert sind, auch die eingestreuten Musiken wie ein Chopin-Walzer oder ein treudeutsches Volkslied tragen zum dichten Bild einer Zeit bei, über deren halbwegs vollzogene intellektuelle Überwindung Männer wie Frauen nur froh sein können.
Weitere Vorstellungen am 30. September, 20. Oktober und 10. November, jeweils um 20 Uhr in der Scheune Wilhelmsdorf.