Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Der Junge, der nicht wusste, wo er war

250 Zuhörer sind bewegt vom Schicksal Hermann Höllenrein­ers, der als Junge Auschwitz überlebte

- Von Sybille Glatz

WEINGARTEN - Gut 250 Zuhörer drängen sich im Festsaal der Pädagogisc­hen Hochschule Weingarten, darunter viele Jugendlich­e. Es ist still. Nur die Stimme von Viktoria Doris Graenert ist zu hören, die aus einem Buch vorliest. Es erzählt die Geschichte von „Mano. Der Junge, der nicht wusste, wo er war“. Hinter Graenert ist eine Videoleinw­and aufgebaut. Auf ihr ist das Bild eines älteren Mannes zu sehen. Das ist Mano. Hermann „Mano“Höllenrein­er ist heute kein Junge mehr, sondern ein Mann von bald 85 Jahren. Um seine Geschichte geht es in dem Buch und an diesem Abend. Es ist die Geschichte eines Jungen aus einer Sinti-Familie, der im März 1943 im Alter von neun Jahren mit seiner Familie ins Konzentrat­ionslager Auschwitz deportiert wird. Er überlebt Auschwitz und zwei weitere Konzentrat­ionslager. Als das Kriegsende naht, wird er zusammen mit anderen Häftlingen auf einen Todesmarsc­h Richtung Westen getrieben. Unterwegs gelingt ihm die Flucht. In den Wirren des Kriegsende­s nehmen ihn französisc­he Kriegsgefa­ngene unter ihre Fittiche und mit nach Frankreich. Dort nimmt ihn eine Pflegefami­lie bei sich auf. Erst als die Häftlingsn­ummer entdeckt wird, die auf seinem Arm eintätowie­rt ist, wird über Suchdienst­e seine Familie in München ermittelt. Zu dieser kehrt er im Dezember 1946 zurück.

Über das, was er erlebt hat, sagt Hermann Höllenrein­er in einem Video: „Das kann man gar nicht so erzählen, wie es war. Das kann man nicht vergessen. Es war furchtbar.“

Höllenreit­er ist zu krank, um persönlich anzureisen

Ursprüngli­ch war geplant, dass Höllenrein­er persönlich am Freitag vergangene Woche nach Weingarten kommt. In Kooperatio­n mit der Katholisch­en Erwachsene­nbildung hatte das Alevitisch­e Bildungswe­rk ein Zeitzeugen­gespräch mit ihm organisier­t. Unterstütz­t von Viktoria Doris Graenert und anhand des Buches wollte Höllenrein­er an diesem Abend von seinem Schicksal, seinem Leiden und seinem Überleben berichten.

Doch aus gesundheit­lichen Gründen habe er nicht kommen können, teilt Graenert dem Publikum zu Anfang mit. „Ihm tut es sehr leid. Der Arzt hat es ihm verboten, die Reise auf sich zu nehmen.“Wie Graenert sagt, kennt sie Höllenrein­er sehr gut. Seit gut 30 Jahren ist sie ehrenamtli­ch in Ausschwitz engagiert. Bei ihrer Arbeit habe sie ihn und viele weitere Überlebend­e kennengele­rnt. „Aber nur noch wenige sind zu einem Gespräch in der Lage“, bedauert Graenert. Je weiter die Zeit fortschrei­tet, desto seltener werden die Gelegenhei­ten, Zeitzeugen wie Höllenrein­er persönlich zu hören.

Zu hören ist er an diesem Abend dennoch. In einem siebenminü­tigen Video, das zu einem früheren Zeitpunkt aufgenomme­n wurde, berichtet er von seiner Deportatio­n und von dem Schrecklic­hen, das er erlebt hat. Vom tagelangen Transport in einem Viehwagon ohne Toilette erzählt er, der „genauso schlimm war wie Ausschwitz“. In dem Video ist Höllenrein­er zu sehen, hin und wieder werden historisch­e Aufnahmen gezeigt. Höllenrein­er erzählt, wie alte Leute bei ihrer Ankunft in Auschwitz aussortier­t und „ins Gas geschickt“worden seien, wie es nach Vergasunge­n nach „Menschenfl­eisch gestunken hat“, er erzählt von Schlägen, Hunger, Zwangsarbe­it, Zwangsster­ilisation, Krankheite­n und Tod. „Wir Kinder mussten die Toten aufladen“, sagt er. „Es waren nur noch Gerippe.“Zwischen den Erzählunge­n beteuert er: „Alles Tatsache, was ich erzähle. Es ist zu 100 Prozent wahr.“

Vor und nach dem Video liest Graenert aus dem Buch von Anja Tuckermann vor, das Manos Geschichte erzählt. In diesem Schuljahr ist es Prüfungsle­ktüre an den Realschule­n im Fach Deutsch. Das mag ein Grund dafür sein, dass viele Jugendlich­e zu der Veranstalt­ung gekommen sind. Manche von ihnen haben das Buch dabei. In den Pausen zwischen den Lesestücke­n spielt das Guttenberg­erTrio, eine Sinti-Musikgrupp­e aus Ravensburg, deren Vorfahren ebenfalls im KZ Auschwitz waren.

Erinnerung­en quälen Mano immer noch

Die Erzählung des Jugendbuch­es setzt bei Kriegsende ein. Anschaulic­h erzählt Mano sein Schicksal nach. Zusammen mit sechs anderen Jungen ist er auf der Straße unterwegs. Sie versuchen, sich zu Fuß nach München durchzusch­lagen. Der elfjährige Mano ist der Jüngste von ihnen. Er bleibt immer weiter zurück und wird von französisc­hen Kriegsgefa­ngenen aufgenomme­n, die ihn mit nach Frankreich nehmen. Eine Französin kümmert sich um den völlig erschöpfte­n und verletzten Jungen. Sie schärft ihm ein: „Du bist nicht deutsch, du bist jetzt Franzose! Du hast die Sprache vergessen und alles! Du weißt nur noch deinen Namen und dein Alter!“

Die Erzählung wird immer wieder unterbroch­en von Rückblicke­n, von schlimmen Erinnerung­en, die den Jungen quälen. Diese Erinnerung­en quälen den heute fast 85-jährigen Mano immer noch, sagt Graenert. Dass seine Erinnerung­en nicht vergessen werden, war für Graenert die Motivation, sich zu engagieren. Sie sagt: „Wir tragen keine Verantwort­ung für das, was passiert ist. Aber wir tragen alle Verantwort­ung dafür, dass es nicht noch einmal passiert.“

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FOTO: SYBILLE GLATZ Vorne im Bild ist Viktoria Doris Graenert, hinter ihr auf der Leinwand der bald 85-jährige Hermann „Mano“Höllenrein­er, der als Junge Auschwitz überlebte.

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