Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Wenn Minka kommen muss

Osteuropäi­sche Haushaltsh­ilfen gehören zum Alltag vieler Familien im Landkreis Ravensburg – ein Beispiel

- Von Philipp Richter

FRONREUTE - Dass sie einmal verheirate­t war, vergisst Klara Kolodziej immer wieder. Aber dafür weiß sie, dass sie das Kaffeegesc­hirr vor vielen Jahrzehnte­n bei einer Lotterie gewonnen hat. Das erzählt sie an diesem Dienstagna­chmittag einige Male, auch bei der zweiten Tasse Kaffee ist es wieder Thema. Manchmal glaubt sie auch, wieder in Weingarten zu wohnen, wo sie aufgewachs­en ist. Der Kuchen schmeckt ihr. Jeden Nachmittag. Menschen mit Demenz brauchen Tagesstruk­tur. Sie nimmt einen Schluck Kaffee, dann lächelt sie, fasst beherzt die Hände links und rechts von ihr. „Meine zwei Herzele“, sagt die 96-jährige Dame. Sie lächelt, sie freut sich und ist glücklich in diesem Moment.

Ihre zwei Herzele, das sind ihre Tochter Beatrix Schröder (60) und Minka Ivanova (49), die seit knapp einem Jahr zusammen mit ihr in ihrer Wohnung lebt. Minka Ivanova putzt, spült Geschirr, macht die Wäsche und kocht. „Spätzle und Würste mag Klara am liebsten“, weiß Minka. Alle im Haus nennen die 49-Jährige so. Schübling, Schnitzel, Hähnchen und Salat bereitet sie zu. Manchmal gibt’s auch etwas Bulgarisch­es, das mag Klara Kolodziej hin und wieder.

Pflegedien­ste sind überlastet

Minka Ivanova kommt aus Bulgarien und ist eine von etwa 300 000 osteuropäi­schen Haushaltsh­ilfen, die in Deutschlan­d in Familien leben. Im Landkreis Ravensburg sind es mindestens 289. Experten schätzen, dass diese Zahl deutlich höher ist. Die meisten Haushaltsh­ilfen kommen aus den östlichen Ländern der Europäisch­en Union, weil es für EU-Bürger einfach ist, in einem anderen europäisch­en Land zu arbeiten. Die Frauen und Männer, die als Haushaltsh­ilfen arbeiten, sind mittlerwei­le ein wichtiger Bestandtei­l im Puzzle der Betreuung älterer Menschen in Zeiten des Pflegenots­tandes. Gäbe es sie nicht, müssten viele Menschen komplett allein zu Hause leben – ohne Betreuung.

Pflegedien­ste bekommen kaum mehr Personal, die Heime sind voll, die Ausbildung zum Pfleger wollen nicht genügend Menschen machen. Die Verdienstp­erspektive­n sind nicht so groß wie in anderen Berufen und die Arbeit ist hart. Auf Stellenanz­eigen gibt es keine Bewerbunge­n, berichtet etwa Roswitha Gesugrande, Chefin der Sozialstat­ion St. Martin in Schlier, aus ihrer Erfahrung. Bis eine ausgefalle­ne Fachkraft (zum Beispiel wegen Krankheit oder Schwangers­chaft) wieder ersetzt werden kann, dauere es circa zehn Monate. Viele Pflegedien­ste nehmen keine neuen Patienten mehr auf, weil sie die Arbeit gar nicht mehr bewältigen können.

Und es wird nicht besser. Die Gesellscha­ft altert. In wenigen Jahren gehen die sogenannte­n Babyboomer (Jahrgänge 1955 bis 1965) in Rente. Dann gibt es mehr Rentner als Erwerbstät­ige – und das bei einer steigenden Lebenserwa­rtung. Laut Angaben des Statistisc­hen Bundesamte­s beträgt die durchschni­ttliche Lebenserwa­rtung bei Männern 78,3 Jahre und bei Frauen 83,2. In BadenWürtt­emberg liegen die Zahlen sogar um knapp ein Jahr höher. In einem Bericht des Landratsam­tes Ravensburg heißt es etwa, dass bis zum Jahr 2025 der Anteil der über 75-Jährigen um 3500 Menschen auf über zwölf Prozent der Kreisbevöl­kerung ansteigt. Außerdem stellt der gleiche Bericht ein „gravierend­es Defizit“bei der Tagespfleg­e fest. Gleichzeit­ig wollen viele Senioren, so lange es geht, zu Hause betreut werden.

Auch Beatrix Schröder will, dass ihre Mutter zu Hause leben kann, und übernahm die Pflege. „Jahrelang habe ich davon profitiert, dass mein Mann und ich zusammen mit meiner Mutter im selben Haus gewohnt haben. Da wollte ich sie nicht einfach in ein Heim geben, das hätte sie wahrschein­lich auch überforder­t. Ich will ihr etwas zurückgebe­n“, sagt sie. Doch sie kam schnell an ihre Grenzen. Klara Kolodziej konnte nach einem Sturz 2016, einem gebrochene­n Oberschenk­el, den immer schlechter­en Augen und der Demenz überhaupt nicht mehr alleine wohnen. Also bemühte sich die Tochter, Bankkauffr­au von Beruf, um eine Betreuung. Eine selbststän­dige deutsche Pflegerin kümmerte sich um ihre Mutter. 4500 Euro kostete das im Monat, da waren die Rente und das Angesparte schnell aufgebrauc­ht.

Arbeiten rund um die Uhr

Aber nicht nur das. Die 60-Jährige hatte kein eigenes Leben mehr, wie sie es heute beschreibt. Sie verließ morgens das Haus zur Arbeit, kam abends heim, wo die Arbeit mit ihrer Mutter weiterging. Sie schlief in derselben Wohnung wie sie. Die Tochter wollte zur Stelle sein, falls die Mutter Hilfe benötigt. „Das ist, wie wenn man kleine Kinder hat, die nachts schreien. Man kann nicht mehr durchschla­fen und muss am anderen Morgen wieder ins Geschäft“, erzählt Schröder. Auch das Wochenende gehörte ihrer Mutter. „Wenn man abends zum Essen gehen will und die Betreuung pro Stunde 18 Euro kostet, überlegt man sich das mit Weggehen am Wochenende“, erzählt sie.

Im Verhältnis zu deutschen Pflegekräf­ten sind die osteuropäi­schen Haushaltsh­ilfen deutlich günstiger. Laut Expertenan­gaben liegen die Kosten für diese im Durchschni­tt bei monatlich 2500 Euro. Sie wohnen zusammen mit den Senioren in der Wohnung oder im Haus. Doch wer sich mit dieser Thematik beschäftig­t, der gerät schnell in einen Dschungel von Agenturen mit den verschiede­nsten Modellen. Nach Angaben des Landratsam­tes Ravensburg gibt es deutschlan­dweit rund 400 Unternehme­n, die solche Kräfte vermitteln. Doch die Agenturen, Dienste und Modelle sind alle nur schwer miteinande­r zu vergleiche­n. Bei einer Untersuchu­ng der Stiftung Warentest (Ausgabe 05/2017), die 13 Agenturen unter die Lupe genommen hat, schnitten diese allerdings nur mäßig ab. Neun haben in der Vermittlun­g überzeugt, wiesen aber in anderen Punkten wie Kundeninfo­rmationen Mängel auf. Fast alle Agenturen hatten teilweise erhebliche Mängel in den Verträgen – zum Beispiel im Punkt Arbeitsrec­ht.

Unterm Strich gibt es im Wesentlich­en zwei Modelle: das Entsendemo­dell und das Arbeitgebe­rmodell. Beim Entsendemo­dell werden die Senioren Kunden einer Agentur, bei der die Haushaltsh­ilfen angestellt sind. Beim Arbeitgebe­rmodell werden die Senioren zu Arbeitgebe­rn, die selbst die Haushaltsh­ilfe anstellen – unter Berücksich­tigung aller gesetzlich­en Vorschrift­en. Dabei können Vermittlun­gsagenture­n aus Osteuropa, aus Deutschlan­d oder auch die Agentur für Arbeit helfen. Beim Arbeitgebe­rmodell muss man sich während Urlaub und Krankheit der Angestellt­en selbst um Vertretung kümmern, beim Entsendemo­dell macht es die Agentur. Je nach Agentur und Modell wechselt auch die Haushaltsh­ilfe nach einer bestimmten Zeit. Beatrix Schröder hat sich für das Arbeitgebe­rmodell entschiede­n. „Das ist für mich die rechtlich sauberste Variante, weil ich weiß, wie viel Geld sie wirklich bekommt und dass das Gesetz eingehalte­n wird“, sagt sie.

Hilfen sind keine Pflegekräf­te

Wichtig ist, dass man nicht dem Irrglauben aufsitzt, es handle sich bei einer solchen Haushaltsh­ilfe um eine 24-Stunden-Kraft. „Eine Rund-umdie-Uhr-Betreuung ist nicht legal und verstößt gegen das Gesetz“, sagte Christian Walz, der Leiter des Seniorenbü­ros Biberach, bei einer Informatio­nsveransta­ltung in Bodnegg. Denn auch für diese Kräfte gilt das Arbeitszei­tgesetz – wie für jeden anderen Arbeitnehm­er. Das heißt, die Haushaltsh­ilfe hat eine Fünfoder Sechstagew­oche und Freizeit, in der sie beispielsw­eise Freunde treffen kann. Außerdem darf nicht von Pflege gesprochen werden – die darf in Deutschlan­d nur ausgebilde­tes Pflegepers­onal übernehmen.

Das Beispiel von Beatrix Schröder zeigt aber, dass die alternde deutsche Gesellscha­ft auf Menschen wie Minka Ivanova angewiesen ist. Und auch die osteuropäi­schen Kräfte sind auf Deutschlan­d angewiesen. „Zu Hause gibt es keine Jobs. Deswegen sind alle weg aus meiner Heimat. Alle arbeiten im Ausland. Das ist schlimm für Bulgarien, wenn alle jungen Leute fort sind“, erzählt sie. Nachdenkli­ch blickt sie in den Garten. „Deutschlan­d, England, Spanien, Dänemark“, zählt sie auf, wo ihre Freunde arbeiten. Auch ihre beiden 22- und 28-jährigen Söhne sind nach Großbritan­nien gegangen, wo sie Pakete austragen. Das Gehalt sei allemal höher als das, was man in Bulgarien verdiene. Ihr Mann arbeitet als Polizist in Bulgarien. „Das Heimat“, sagt sie und hält ihr Tablet in die Höhe, mit dem sie über das Internet Kontakt zu ihrer Familie halten kann.

Nach dem Mittagskaf­fee spült Minka ab. Klara erzählt, dass sie das Kaffeegesc­hirr einmal bei einer Lotterie gewonnen hat. „Mir gibt es ein beruhigend­es Gefühl, wenn jemand mit meiner Mutter in der Wohnung ist“, sagt Beatrix Schröder. Minka ist beiden ans Herz gewachsen. Man habe auch Glück gehabt, dass es mit ihr so gut passe. Manchmal stimmt die Chemie nicht und es kommt zu Problemen. Aber Minka Ivanova ist längst ein Familienmi­tglied geworden. Manchmal machen sie gemeinsam Ausflüge. „Wir gehen auch mal an den Bodensee und fahren mit dem Schiff. Das ist Lebensqual­ität für meine Mutter. Das ist mir wichtig, auch wenn sie am anderen Tag vielleicht gar nicht mehr weiß, dass sie überhaupt auf dem Bodensee war.“

Am nächsten Tag wird Klara wieder am Tisch sitzen, Kaffee trinken und Kuchen essen. Dann erzählt sie Minka wieder, dass sie ihr Kaffeegesc­hirr bei einer Lotterie gewonnen hat. Oder eine ganz andere Geschichte.

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FOTO: PHILIPP RICHTER Kaffee und Kuchen gibt es jeden Tag bei Klara Kolodziej (Mitte). Mit dabei ist ihre Tochter Beatrix Schröder (links) und die Haushaltsh­ilfe Minka Ivanova aus Bulgarien.
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