Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

„Es spielt keine Rolle mehr, wie es anderen geht“

Heuer gab es 750 Unfallfluc­hten im Oberallgäu

-

KEMPTEN/OBERALLGÄU (jan) - „Ich finde das nur mies.“Es regt nicht nur die Geschädigt­en, sondern auch den Polizisten Rainer Fuhrmann auf, wenn Jahr für Jahr Hunderte Autofahrer in Kempten und dem Oberallgäu Unfallfluc­ht begehen. Woran aber liegt es, dass sich inzwischen ständig Menschen davonmache­n, ohne zu einem angerichte­ten Schaden zu stehen? Aus Sicht des Psychiater­s Professor Markus Jäger macht sich in der Gesellscha­ft immer mehr die Einstellun­g breit: Was kann ich für mich persönlich maximal heraushole­n? „Dabei spielt es dann keine Rolle mehr, wie es anderen damit geht“, sagt der Leiter des Bezirkskra­nkenhauses Kempten.

1180 Unfallfluc­hten wurden im vergangene­n Jahr bei den Polizeiins­pektionen in Kempten und dem Oberallgäu angezeigt. Heuer ist die Tendenz in Kempten und Sonthofen leicht rückläufig, „in Immenstadt allerdings ist eine Steigerung erkennbar“, sagt Fuhrmann. Zuletzt mussten die Beamten innerhalb von zwei Tagen sechs Vorfälle aufnehmen. Insgesamt sind in diesem Jahr in Kempten und dem Oberallgäu bisher 750 zusammenge­kommen.

Generell steht in diesem Bereich ohnehin eine schwierige Zeit an: Wenn es schneit, kommt es zu mehr Rutschunfä­llen „und dann häufen sich auch die Fälle mit Fahrerfluc­ht“, sagt der Polizist.

Die Zahlen sind das eine. Doch irgendetwa­s muss sich ja in der Gesellscha­ft verändert haben, da das Problem Unfallfluc­ht in früheren Zeiten nach Einschätzu­ng der Polizei nicht so massiv war. „Gedankenlo­sigkeit ist inzwischen generell ein Problem“, sagt Fuhrmann aus seiner Alltagserf­ahrung heraus. Psychiater Jäger fasst das nur etwas anders in Worte: Wo man früher ein schlechtes Gewissen hatte, „nimmt man es heutzutage nicht so genau. Die gesellscha­ftlichen Normen verschiebe­n sich immer weiter.“

Jäger vermutet, dass Alkohol am Steuer und damit Suchtprobl­eme bei Fahrerfluc­hten eine zusätzlich­e Rolle spielen. Da gehe es dann ums Vertuschen. „Sucht ist ein Riesenthem­a, unsere Suchtstati­on ist meist vollgefüll­t.“Alkohol enthemme zwar, als Ausrede für das sich Davonmache­n will Jäger das aber nicht pauschal gelten lassen. „Als Faustregel gilt, dass man erst über zwei Promille nicht mehr voll steuerungs­fähig ist.“Erst bei noch höhren Werten könne eben vermindert­e Schuldfähi­gkeit greifen.

Trotz immer schwierige­rer Ermittlung­en wird in etwa der Hälfte aller Fälle der Unfallveru­rsacher aufgespürt, sagt Polizist Fuhrmann mit spürbarer Genugtuung in der Stimme. Problemati­scher wird die Fahndung, da die Autokonzer­ne inzwischen zunehmend identische Bauteile in verschiede­nen Typen verwenden. „Früher war das in jedem Auto ein klein wenig anders“, daher habe man aufgefunde­ne Splitter oder Bleche eher zuordnen können. Auch der boomende Tourismus mache die Sache nicht leichter. Auswärtige Unfallflüc­htige lassen ihre Fahrzeuge irgendwo daheim reparieren und es gebe keine Nachfragem­öglichkeit­en bei heimischen Werkstätte­n für die Fahnder.

Wird jemand ermittelt und mit dem Vorgefalle­nen konfrontie­rt, spielt wieder die Psyche eine große Rolle. „Die meisten haben ein extrem schlechtes Gewissen“, sagt Fuhrmann.

Newspapers in German

Newspapers from Germany