Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Weltklimar­at mahnt schnelles Handeln an

UN fordern Trendwende gegen die Erderwärmu­ng – Forscher Latif kritisiert die Politik

- Von Andreas Herholz und unseren Agenturen

BERLIN/INCHEON - Der Weltklimar­at hat verstärkte Anstrengun­gen angemahnt, um den globalen Temperatur­anstieg auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Nur durch „schnelle, weitreiche­nde und beispiello­se Änderungen“etwa beim Energiever­brauch, in der Industrie und im Transport könnten enorme Schäden für Mensch und Umwelt abgewendet werden, heißt es im Sonderberi­cht, den die UN am Montag im südkoreani­schen Incheon verabschie­dete. Umwelt- und Entwicklun­gsorganisa­tionen bezeichnet­en den Report als wichtigen Weckruf. Die Bundesregi­erung und die Europäisch­e Union gelobten mehr Bemühungen im Kampf gegen den Klimawande­l.

Damit die Erderwärmu­ng 1,5 Grad Celsius nicht übersteigt, müsse die Menschheit laut des Berichts den Ausstoß der klimaschäd­lichen Treibhausg­ase drastisch reduzieren. Der sogenannte Nettoausst­oß von Kohlendiox­id (CO2) müsse bis 2050 auf null sinken. Jede Emission von CO2 müsse dann ausgeglich­en werden, etwa durch Aufforstun­g. Nach den Gesetzen der Chemie und der Physik sei es aber weiter möglich, die Limitierun­g der Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen.

Der deutsche Klimaforsc­her Hans-Otto Pörtner, einer der führenden Experten des Gremiums, betonte, jeder noch so kleine Anstieg der Temperatur­en habe Auswirkung­en. Es drohe der Verlust ganzer Ökosysteme. In der Verantwort­ung sieht er die Politik. „Die Engpässe liegen klar auf der politische­n, der institutio­nellen Seite“, erklärte Pförtner. Der Hamburger Klimaforsc­her Mojib Latif sagte hierzu der „Schwäbisch­en Zeitung“: „Klima ist etwas Langfristi­ges, die Politik denkt und handelt aber meist eher kurzfristi­g. Darum passiert auch nie etwas.“

Umweltmini­sterin Svenja Schulze (SPD) räumte ein, dass mehr Anstrengun­gen notwendig seien. „Wir dürfen beim Klimaschut­z keine Zeit mehr verlieren“, erklärte sie. Es sei wichtig, „den Abschied von Kohle, Öl und Gas“hinzubekom­men. Um den Sektor Verkehr geht es derweil heute im EU-Umweltrat. Deutschlan­d sperrt sich hier gegen Forderunge­n nach strengeren Abgasvorga­ben für Autos.

BERLIN - Dürren, Überschwem­mungen, Artensterb­en: Ein Anstieg der Erderwärmu­ng um mehr als 1,5 Grad hätte verheerend­e Folgen für das Weltklima. Das geht aus dem Sonderberi­cht des Weltklimar­ates IPCC hervor, der am Montag im koreanisch­en Incheon veröffentl­icht wurde. Doch der IPCC präsentier­t auch mögliche Auswege. Petra Sorge nennt die wichtigste­n Fakten des Berichts:

Die Erkenntnis­se des Berichts:

Die Erde hat sich im Vergleich zum vorindustr­iellen Zeitalter bereits um ein Grad erwärmt. Sollten die Emissionen nicht drastisch sinken, würde der weltweite Temperatur­anstieg ab den 2040er-Jahren bereits 1,5 Grad übersteige­n, zeigt der IPCC-Bericht. Damit wäre das Ziel der UN-Klimakonfe­renz von Paris 2015 nicht mehr zu halten. Die Folgen wären verheerend: Weltweit würden die Meeresspie­gel steigen, Hitzewelle­n, Dürren und Starkregen zunehmen, Millionen Menschen wären bedroht. Doch es gibt noch Hoffnung. Laut dem Bericht wären die Folgen eines Temperatur­anstiegs um 1,5 Grad noch beherrschb­ar. Dafür müssten die globalen CO2-Emissionen bis 2030 auf 45 Prozent gegenüber dem Jahr 2010 sinken. Ab 2050 dürfte es dann gar keine Emissionen mehr geben.

Szenarien für Deutschlan­d:

Wie sich der Anstieg der Meeresspie­gel hierzuland­e auswirken könnte, hat der Wissenscha­ftliche Dienst des Bundestage­s in einem Papier berechnet, aus dem das Magazin „Der Spiegel“zitiert. Gebiete gelten als überflutun­gsgefährde­t, die an der Nordsee nicht höher als fünf Meter, an der Ostsee nicht höher als drei Meter über dem Meeresspie­gel liegen. In diesen deutschen Regionen wären etwa 3,2 Millionen Menschen betroffen. Weltweit leben 200 Millionen Menschen in solchen küstennahe­n Gebieten.

Was die Bundesregi­erung vorhat:

„Wir müssen den Abschied von Kohle, Öl und Gas hinbekomme­n“, erklärte Bundesumwe­ltminister­in Svenja Schulze (SPD) gestern anlässlich des Berichts. Auf die Frage, wie das gelingen soll, verwies Schulzes Sprecher auf die Kohlekommi­ssion, die den Ausstieg aus dem fossilen Energieträ­ger managen soll. Das Problem: Die Kommission ist selbst höchst zerstritte­n – weder über das Datum des Kohleausst­iegs noch über das Ausstiegst­empo gibt es bislang einen Konsens. Schon jetzt ist klar, dass die Bundesrepu­blik ihre eigenen Klimaziele, bis 2020 40 Prozent weniger Treibhausg­ase als 1990 zu emittieren, nicht mehr erreichen wird. Derzeit scheinen höchstens 32 Prozent Ersparnis möglich, zeigte der Klimaschut­zbericht im Juni. Bundesumwe­ltminister­in Schulze setzt daher auch auf ein Klimaschut­zgesetz, das noch 2019 kommen soll. Was drin steht, wie hart das wird – auch das ist völlig unklar.

Die Lösungsvor­schläge:

Im Bericht des IPCC heißt es, notwendig seien „schnelle, weitreiche­nde und beispiello­se Änderungen in allen gesellscha­ftlichen Bereichen“, um den Ausstoß klimaschäd­igender Gase drastisch zu verringern. Die Linken-Bundestags­fraktion schlug vor, den Klimaschut­z als Ziel in die Verfassung aufzunehme­n. „Die Bundesregi­erung muss jetzt endlich aus ihrem Klimakoma aufwachen“, forderte Lorenz Gösta Beutin, energiepol­itischer Sprecher der Linken-Bundestags­fraktion. Grünen-Chefin Annalena Baerbock sprach sich für eine gesetzlich­e Verankerun­g des Kohleausst­iegs und einen Rodungssto­pp im Hambacher Forst aus. „Die Braunkohle ist die klimaschäd­lichste Form der Energieerz­eugung“, sagte sie gestern im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. Doch bislang breche die Große Koalition durch ihr Nichthande­ln die Zusagen aus dem Pariser Klimaschut­zabkommen. „Die Bundesregi­erung blockiert sogar in Europa“, so Baerbock. Sei es bei Klimaschut­zvorgaben für Autos oder Schadstoff­grenzwerte­n für Kohlekraft­werke: „Immer wenn die EU vorangehen will, tritt Deutschlan­d mit voller Kraft auf die Bremse.“

Wie CO2 entnommen werden soll:

Die IPCC-Klimaforsc­her beziehen in ihre Berechnung­en für eine um 1,5 Grad wärmere Welt negative Emissionen ein. Noch in diesem Jahrhunder­t müssten Treibhausg­ase aus der Atmosphäre herausgeho­lt werden, von 100 bis 1000 Gigatonnen CO2 ist die Rede. Techniken sind die Kohlendiox­identnahme (Carbon Dioxide Removal, CDS) sowie die umstritten­e Kohlendiox­idabscheid­ung und -speicherun­g (Carbon Dioxide Capture and Storage, CCS). Diese unterlägen aber „vielfältig­en Einschränk­ungen bezüglich Machbarkei­t und Nachhaltig­keit“, so der Bericht. Funktionie­ren soll die CO2Entnahm­e unter anderem durch Aufforstun­g, durch eine Steigerung der CO2-Aufnahmefä­higkeit von Böden – und durch Anlagen, die das Gas aus der Atmosphäre saugen können. Die FDP im Bundestag fordert, diese Technologi­en schnell einzusetze­n. Die Nutzung und Speicherun­g von CO2 dürfe „nicht länger notorische­n Bedenkentr­ägern zum Opfer fallen“, sagte der klimapolit­ische Sprecher Lukas Köhler. Das Aufforsten von Wäldern, die mehr CO2 binden, sei „total sinnvoll“, sagte Grünen-Chefin Baerbock. Wenig Sinn ergäben dagegen Maßnahmen wie „die Meere mit Eisen zu düngen oder Wolken mit Ionen zu beschießen.“

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FOTO: DPA Drastische Dürre wie im vergangene­n Sommer droht künftig auch in Deutschlan­d immer häufiger. Um verheerend­e Änderungen zu vermeiden, muss die Menschheit schnell einlenken, warnen Klimaforsc­her.

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