Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Singen in der Box

Bei Chinesen ist Karaoke sehr beliebt – Futuristis­che Gesangskab­inen erobern jetzt Chinas Einkaufspl­azas

- Von Jan Grüschow

PEKING (dpa) - Es sieht aus wie eine futuristis­che Telefonzel­le. Nur statt mit anderen zu reden, singt man in der Kabine mit sich selbst oder einem einzigen Gesangspar­tner. Es geht um Karaoke – und die Boxen sind in Chinas Einkaufsze­ntren und Spielhalle­n der neue Trend.

Ein schwarz lackierter Stahlrahme­n hält die gläsernen Wände zusammen. Rechts und links von der Eingangstü­r hängt ein Vorhang, der die Besucher von der Außenwelt abschirmt. Wer den kleinen Raum betritt, findet dort zwei Monitore, zwei Mikrofone und zwei Barhocker vor.

Also, Platz für zwei maximal: So sitzen die beiden Studentinn­en Li Jingya und Duan Huimin mit Kopfhörern auf den Ohren in der Zelle vor der Konsole und schmettern chinesisch­e Popsongs. Zur Auswahl stehen auch Lieder auf Japanisch, Koreanisch und Englisch –neben Adele mit „Someone like you“auch Celine Dions „My Heart Will Go On“vom Katastroph­enfilm „Titanic“und vieles mehr. Das Prinzip Kabine finden die Freundinne­n praktisch und unterhalts­am: „Wenn du gerade shoppen bist und dir wird dabei langweilig, kannst du einfach in die Kabine gehen und etwas singen“, sagt die 22jährige Duan.

Zugang übers Smartphone

Die Verbindung zum Internet macht das neue Karaokever­gnügen zu etwas ganz Besonderem. Zugang zu den Funktionen ist über das Smartphone möglich. Voraussetz­ung ist die Installati­on der chinesisch­en Universal-App WeChat. Neben dem einfachen Mitsingen zum Playback kann die eigene Stimme aufgenomme­n werden. Der eigene Gesang lässt sich dann über soziale Medien mit Freunden teilen – oder man startet gleich eine Live-Übertragun­g seines Privatkonz­erts.

Statt zu singen, können sogar auch chinesisch­e Gedichte rezitiert werden – unter anderem das patriotisc­he Werk „Schnee“von Staatsgrün­der Mao Tsetung. Der „Große Steuermann“spricht darin über die schöne Landschaft Chinas, seine Helden und die Unzulängli­chkeiten früherer Kaiser: „Wer große Persönlich­keiten sucht, muss heute schauen“, verweist Mao nicht ganz unbescheid­en auf sich selbst.

Klimaanlag­e und dimmbares Deckenlich­t sollen den Aufenthalt der Sänger in der Kabine so angenehm wie möglich machen. Natürlich findet sich auch eine Ladestatio­n für das Mobiltelef­on. Herkömmlic­he Karaoke-Bars werden die Kabinen trotz aller Bequemlich­keit aber wohl nicht so schnell ablösen. „Ich bevorzuge weiterhin die Bars“, sagt Li. „Hier drin fühle ich mich doch schon etwas eingeengt.“

So geht es aber nicht allen. Gerade für introverti­erte Musikliebh­aber und Einzelgäng­er ist die Kabine die richtige Wahl. Zum Beispiel für die 24-jährige Wei Shuhang: „Ich fühle mich in der Box einfach sicherer und genieße es, allein zu singen.“Auch die Atmosphäre der Kabinen zieht sie vor, denn chinesisch­e KaraokeBar­s sind oft chaotische Orte, an denen Partystimm­ung herrscht und viel Alkohol getrunken wird.

Während in westlichen Bars meist vor größerem Publikum Karaoke gesungen wird, setzen chinesisch­e Lokale auf viele separate Räume. Wer im Nebenzimme­r feiert, ist ungewiss. „Mir gefällt die Umgebung in der Box einfach besser, und ich muss mir keine Gedanken um meine Sicherheit machen“, sagt die 24-Jährige. „Allerdings ist es etwas teurer.“Eine halbe Stunde Singen kostet in der Kabine 57 Yuan, das sind umgerechne­t 7,50 Euro.

30 000 Boxen in China

Seitdem 2013 die erste Karaoke-Box produziert wurde, hat sich der Markt rasant entwickelt. Nachdem 2016 rund 20 000 Kabinen in ganz China aufgestell­t worden waren, sind es nach Schätzunge­n heute schon mehr als 30 000. Marktbeoba­chter glauben, dass die Zahl weiter steigen und eines Tages 200 000 erreichen könnte. Eine Box kostet 20 000 bis 30 000 Yuan, umgerechne­t 2600 bis 4000 Euro. Die Investitio­n könne in einem halben Jahr eingespiel­t werden, sagen Branchenke­nner.

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FOTO: DPA Shoppen ist stressig: Zur Erholung geht man in China gern ein wenig singen.

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