Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Händler durchquerten das mittelalterliche Europa
Schon vor 600 Jahren waren Ravensburger Kaufleute im Fernhandel aktiv
AVIGNON/RAVENSBURG - In einer Zeit, in der die meisten Menschen Leibeigene waren und kein Recht hatten, die Scholle des Herrn ohne Erlaubnis zu verlassen, trieben Kaufleute der Freien Reichsstadt Ravensburg Fernhandel mit halb Europa. Die jüngste Ausstellung im Museum Humpisquartier hatte daher „Die Humpis in Avignon“zum Inhalt.
Im Übergang zwischen Mittelalter und Beginn der Neuzeit gründeten die Familien Humpis, Mötteli und Muntprat eine Gesellschaft, um gemeinsam in den europäischen Fernhandel einzusteigen. Urkundlich ist diese Verbindung erstmals 1406 erwähnt. Sie bestand mindestens 130 Jahre, vermutlich waren es eher 150.
In dieser Zeit erlebte Europa bahnbrechende Entwicklungen in fast allen Lebensbereichen. Die Städte wuchsen enorm, es kam zu unzähligen Universitätsgründungen, neue Seewege und Kontinente wurden entdeckt. Die Schifffahrt veränderte sich komplett durch den Umstieg von der Galeere aufs Segelschiff, sodass auch in Küstenferne navigiert werden konnte. Der Buchdruck entstand. Und der europäische Fernhandel.
Die Ravensburger Große Handelsgesellschaft, der immer mehr Familien im Lauf der Jahre beitraten, begann zunächst mit dem Flachshandel. Flachs wuchs in Oberschwaben im großen Stil, daraus konnte man Leinwand und daraus wiederum Segel für die Mittelmeerschifffahrt herstellen. Bald waren die Kaufleute unter der Führung der Familie Humpis in halb Europa unterwegs, handelten später auch mit Gewürzen, mit edlem Stoff, mit Safran - und mit Zucker.
Zentrum des Zuckerhandels war die südfranzösische Stadt Avignon, damals mit 30 000 Einwohnern eine der größten Städte Europas. 24 Tagesreisen war die kulturell und wirtschaftlich bedeutsame ProvenceStadt von Ravensburg entfernt, doch die Mühe lohnte sich, denn mit dem damaligen Luxusprodukt Zucker ließen sich im Spätmittelalter exorbitante Gewinne erzielen. Den Zucker produzierten die Humpis in einer eigenen Fabrik unweit von Valencia, der Vertrieb lief über die eigene Filiale in Avignon.
In ihrer Blütezeit hatte die Große Ravensburger Handelsgesellschaft 13 eigene Niederlassungen in Europa, um Handel zu treiben und ihre Routen abzusichern. Erst der Niedergang des Mittelmeerhandels durch die Konkurrenz aus dem neu entdeckten Kontinent Amerika führte bei der Ravensburger Gesellschaft zu Auflösungserscheinungen. Hinzu kam, dass etwa die Familie Humpis massiv in den Adelsstand drängte. 1530 löste sich die Große Ravensburger Handelsgesellschaft auf.
Noch heute ist vieles nicht bekannt über die Geschichte der oberschwäbischen Fernhandelsfamilien, nicht einmal ihr Name. Den gängigen Begriff „Große Ravensburger Handelsgesellschaft“prägte der Wirtschaftshistoriker Aloys Schütte erst in den 1920er-Jahren. Das Museum Humpisquartier bemüht sich daher weiter, Licht ins Dunkel der Geschichte zu bringen. Ein Schwerpunkt der Forschungen soll in den kommenden Jahren der Flandern-Handel der Ravensburger Kaufleute sein. Hierüber ist heute sehr wenig bekannt.