Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Joachim kann bald alleine essen gehen

Gehörloser Mann braucht Übersetzer an seiner Seite – Bilder-Wörterbuch soll helfen

- Von Lena Müssigmann

RAVENSBURG - Soll die warme Seele mit Schinken oder Rauchfleis­ch belegt sein? Diese Wahl kann Joachim Mosch (28) bei der Bestellung des Essens in der Ravensburg­er Kneipe „Räuberhöhl­e“nicht verstehen und nicht treffen. In seiner Sprache gibt es nur das Wort Wurst. Joachim ist mit Down-Syndrom und fast ohne Gehör zur Welt gekommen. Er verständig­t sich mit seinen Betreuern in einer einfachen Gebärdensp­rache. Ein geplantes Bilder-Wörterbuch soll ihm und anderen Betroffene­n künftig helfen, genauer ihren Willen auszudrück­en – zumindest, wenn es um Essen und Trinken geht.

Das diakonisch­e Unternehme­n „Die Zieglersch­en“betreibt die Wohngruppe, in der Joachim Mosch und 22 andere Menschen mit geistiger Behinderun­g leben, die außerdem sehr schlecht oder gar nicht hören können. Barbara Lichtner ist die Leiterin. Sie erklärt, dass die Zieglersch­en als Hilfestell­ung für Menschen wie Joachim ein Bilder-Wörterbuch für Speisen und Getränke drucken lassen wollen. Auch ein gedruckter Stadtführe­r sei geplant, in dem wichtige Ravensburg­er Orte optisch leicht zu erkennen eingezeich­net sind. Dann können Bewohner zeigen, wo sie alleine waren. Und Lichtner kann zeigen, wo sie zum Beispiel bei einer gemeinsame­n Freizeitak­tion hingehen. Solange es solche Hilfen nicht gibt, können die Bewohner eigentlich nur mit Betreuern einkaufen oder zum Essen ausgehen.

Wenn die Gruppe gemeinsam unterwegs ist, geht Joachim gerne voran. Vielleicht, weil er dabei das Gefühl hat, selbststän­dig zu sein. Beim Stammtisch in der Räuberhöhl­e übersetzt Barbara Lichtner, was auf der Karte steht, und gibt schließlic­h die Bestellung auf.

Vereinfach­te Gebärdensp­rache

Wenn er seine gewohnten Wege geht, ist Joachim auch alleine unterwegs. Er fährt mit dem Bus zu den Integratio­ns-Werkstätte­n Oberschwab­en in Weingarten, wo er in der Gärtnerei arbeitet. Er wirkt selbstbewu­sst und lacht viel. Er geht gerne kegeln, schwimmen und Fußball spielen. Und er liebt den VfB. Er kennt die Ergebnisse der letzten Spieltage genau und weiß, dass am 19. November die deutsche Nationalma­nnschaft auf den Rasen geht. Auch Lichtner ist fußballbeg­eistert. Zwischen Joachim und ihr stimmt die Chemie. Das müsse auch so sein, um einander zu verstehen, sagt die Betreuerin.

Normalerwe­ise benützen Gehörlose die Deutsche Gebärdensp­rache (DGS). Sie ist als Sprache anerkannt, hat eine komplizier­te Grammatik und einen großen Wortschatz. Wenn es für ein Wort keine Gebärde gibt, kann es mit einem Fingeralph­abet buchstabie­rt werden, wie Lichtner erklärt. „Wir brauchen hier allerdings was ganz Einfaches“, sagt Lichtner.

In der Wohngruppe werden Gebärden verwendet, die in den 1960erJahr­en in der Schule für Kinder mit Hör-Sprach-Behinderun­g Haslachmüh­le in Horgenzell entwickelt worden sind. Die Sprache heißt „Schau dir meine Hände an“. Die Betreuer sprechen kurze Sätze und zeigen zu den wichtigste­n Signalwört­ern Gebärden. Gerade wegen der fehlenden Grammatik müsse man oft den Kontext kennen, um zu verstehen, was ein Bewohner erzählt, sagt Lichtner. Außerhalb der Wohngruppe wird die Verständig­ung schwierig.

Laute für viele „mittlerer Schock“

„Die hörende Gesellscha­ft ist in der Kommunikat­ion oft hilflos“, sagt der Vorstandsv­orsitzende der Stiftung Pro Kommunikat­ion, Gunter Erbe. Die Stiftung hat den Zweck, hörgeschäd­igte Menschen gesellscha­ftlich einzubinde­n. Die Gebärden, verbunden mit den undeutlich­en Sprechlaut­en, die viele Gehörlose von sich geben, sei für viele Gesprächsp­artner ein „mittlerer Schock“, so Erbe. Wer sich überforder­t fühle, ziehe sich aus der Situation zurück, statt die Verständig­ung zu versuchen. Viele Gehörlose bereiteten sich gut darauf vor, alleine unterwegs zu sein, und schreiben schon vorher auf, was sie wollen. Auch in Gemeinscha­ft unterwegs zu sein, gebe Sicherheit. Sollte eine der Ravensburg­er Hilfen, die jetzt entwickelt werden, allgemeing­ültig sein, könnte sich Erbe vorstellen, dass sie auch anderswo zum Einsatz kommt.

Barbara Lichtner hat in Ravensburg die Erfahrung gemacht, dass Menschen sehr interessie­rt auf sie und ihre Bewohnergr­uppen reagieren, wenn sie unterwegs sind. „Bei uns geht es manchmal richtig laut zu“, sagt sie. „Gehörlose sind nicht leise.“Vor allem die Gebärden weckten das Interesse.

Keine Gebärde für „Linsen“

In der „Räuberhöhl­e“kennt man die Gruppe. Dort gibt es an diesem Abend Linsen mit Spätzle. Die einfache Gebärdensp­rache kennt nur die Begriffe „Reis“und „Nudeln“, was aber nicht im Geringsten ausdrückt, was gemeint ist. Lichtner googelt ein Bild von Linsen und Spätzle und zeigt es in die Runde. Für die Bewohner ist Googeln keine Option. Wer nicht schreiben kann, kann nicht googeln. Als die Seelen, Spätzle und Wurstsalat auf den Tisch kommen, kehrt Ruhe ein. Joachim beißt in die heiße Seele. Ob Rauchfleis­ch oder Schinken? Das scheint ihm egal zu sein, solange der Käse schöne lange Fäden zieht.

Die Zieglersch­en sammeln Spenden, um den Druck der Speisekart­e und des Stadtführe­rs zu finanziere­n. Weitere Informatio­nen unter www.zieglersch­e.de/mithelfen

Wir haben Joachim Mosch auch mit der Videokamer­a begleitet, für Digitalabo­nnenten zu sehen auf www.schwäbisch­e.de/gehörlos

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FOTO: LENA MÜSSIGMANN Joachim Mosch spricht mit Betreuerin Barbara Lichtner über Fußball, sein absolutes Lieblingst­hema.

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