Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Opfer der Dolchstoßlegende
Der schwäbische Politiker Matthias Erzberger unterzeichnete 1918 die deutsche Kapitulation nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg
- Ein Vertreter Oberschwabens hat Weltgeschichte unterschrieben: Mit seinem Schriftzug unter der Waffenstillstandsvereinbarung hat Matthias Erzberger den Ersten Weltkrieg am 11. November 1918 beendet. Als Abgeordneter vertrat er den württembergischen Wahlkreis 16, der die Oberämter Biberach, Waldsee, Leutkirch und Wangen im Reichstag umfasste.
Dass nicht ein Hauptverantwortlicher für die militärische Niederlage unterzeichnete, sondern ein demokratisch gewählter Politiker, sollte die Vertreter der Siegermächte Frankreich, Großbritannien und den USA milde stimmen und ein besseres Abkommen ermöglichen. Die Hoffnung wurde trotz Erzbergers zähem Verhandeln enttäuscht. Die Unterschrift des Politikers ersparte den Vertretern der Obersten Heeresleitung, Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff, den Verantwortlichen für die militärische Niederlage, nicht nur eine Schmach. Tatsächlich war die Übernahme dieser Aufgabe Ausgangspunkt einer in der Geschichte beispiellosen Rufmordkampagne und Verschwörungstheorie namens Dolchstoßlegende, zu deren Urhebern auch Hindenburg und Ludendorff zählten. Erzberger spielt darin eine zentrale Rolle.
Es waren politisch bewegte Zeiten am Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, in denen sich der katholische Zentrumsabgeordnete als Politiker mit großen rhetorischen Fähigkeiten profilierte. So bewegt, dass selbst der Ablauf der Waffenstillstandsverhandlungen die Frage aufwarf, in wessen Auftrag Erzberger am 11. November eigentlich unterschrieben hatte. Am 6. November 1918 war Matthias Erzberger von der letzten Regierung des Kaiserreichs unter Reichskanzler Max von Baden mit dem Abschluss des Waffenstillstands beauftragt worden. Er machte sich auf den Weg nach Compiègne, etwa hundert Kilometer nördlich von Paris.
Dramatische Tage
Am 8. November beginnen dort die Verhandlungen. Am 9. November verkündet der damalige Reichskanzler Max von Baden einseitig den Thronverzicht von Kaiser Wilhelm II. und ernennt den SPD-Politiker Friedrich Ebert zum Reichspräsidenten. Am gleichen Tag ruft der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann vom Fenster des Reichstags in Berlin die Republik aus. Am 11. November setzt der Abgesandte der letzten kaiserlichen Regierung in einem Eisenbahnwaggon auf einer Lichtung in der Nähe von Compiègne seine Unterschrift unter das Waffenstillstandsabkommen. Nunmehr wohl im Auftrag der neuen Republik.
Später bezeichnete es Erzberger als Fehler, dass die Politik in diesem deutschen Schicksalsmoment für die Militärs den Kopf hingehalten hatte. Auch deshalb, weil auch der Vertreter einer demokratischen Ordnung in Compiègne nicht viel erreichen konnte. „Die Regierung des Prinzen Max von Baden hat vielleicht einen einzigen Fehler gemacht, wenn es ein Fehler war. Sie hätte den General Ludendorff hinschicken und ihm sagen sollen: Schließ du den Waffenstillstand ab. Wir als politischer Faktor wollen nicht die Verantwortung für die militärische Niederlage tragen“, sagte er einige Monate später.
Die Bedingungen für den Waffenstillstand waren hart. Das Deutsche Reich musste „Belgien, Frankreich, Elsaß-Lothringen binnen 14 Tagen“räumen und auf den Vertrag von Brest-Litowsk, den Friedensvertrag mit dem besiegten Sowjetrussland, verzichten. Eine Masse an Kriegsgerät musste übergeben werden, darunter hundert U-Boote und Kriegsschiffe. Eine Gegenleistung gab es nicht. Im Gegenteil: Die Seeblockade Deutschlands blieb bestehen.
Aber: Weder politisch und schon gar nicht militärisch gab es Alternativen. Selbst die Oberste Heeresleitung machte Druck auf Erzberger und die Kommission, schnell abzuschließen, anstatt mit weiteren Verhandlungen Zeit zu verlieren: „Gelingt Durchsetzung dieser Punkte nicht, so wäre trotzdem abzuschließen“, hatte ihm Paul von Hindenburg nach Compiègne telegrafiert.
Eine riesige Zahl von Opfern
Den Einsatz von Giftgas, U-BootKrieg und ein grausamer Stellungskrieg kennzeichneten diesen ersten mit den Mitteln industrieller Produktion geführten Krieg. Die Zahl der Opfer ist unvorstellbar. Vorsichtige Schätzungen kommen auf 15 Millionen Tote. Der von Erzberger unterschriebene Waffenstillstand war die Vorstufe für den Friedensvertrag von Versailles, der dem Deutschen Reich harte Bedingungen und schwere Reparationsleistungen im Gegenzug für den Frieden auferlegte.
Am 11. November endete nicht nur der Erste Weltkrieg. Mit Kriegsende waren auch das Kaiserreich und die alte Ordnung untergegangen. Scharf ging Erzberger, damals Finanzminister, am 25. Juli 1919 vor der Nationalversammlung in Weimar – hier entstand die Weimarer Verfassung – mit dem Versagen der Eliten und des Militärs dieser alten Ordnung ins Gericht. Erzberger ließ in dieser Rede nichts aus. Er brandmarkte einen UBoot-Krieg, den die Oberste Heeresleitung ohne eine dafür befähigte Flotte losgetreten hatte, er beklagt die Hintertreibung seiner Friedensbemühungen und die des Parlaments durch ein falsches Spiel bezüglich der Ansprüche auf Belgien, er geißelte die Geringschätzung der Friedensbemühungen des Papstes im Jahr 1917.
„Jeder Friedensvertrag ist die Schlussrechnung eines Krieges. Wer den Krieg verliert, verliert den Frieden, und wer hat bei uns den Krieg verloren? Ich habe es Ihnen nachgewiesen: diejenigen, welche den handgreiflichen Möglichkeiten eines maßvollen und würdigen Krieges immer wieder einen unvernünftigen, trotzigen und verbrecherischen Krieg entgegenstellen.“Keinen Zweifel lässt er an den Verantwortlichen für die Niederlage: „Nicht die Friedensresolution hat die deutsche Widerstandskraft gelähmt, sondern der deutsche Zusammenbruch infolge des katastrophalen Mangels an innenund außenpolitischer Einsicht, mit der die Konservativen und die Oberste Heeresleitung behaftet waren, die sie nicht hinderte, Regierung und Volk einzuschüchtern und zu terrorisieren … Dieses Spiel suchen Sie jetzt noch bis zur Stunde fortzusetzen.“Es muss in der Versammlung hoch hergegangen sein. Zahlreiche Zwischenrufe sind in der Rede Erzbergers protokolliert, eine ganze Armada von Abgeordneten der Rechtsnationalen versuchte sich nach der Rede zu rechtfertigen.
Als „Irrtums- und Illusionspolitik“brandmarkte Erzberger diese Politik, die zur Verlängerung des Krieges führte. Dieser Illusionspolitik war er anfänglich selbst erlegen. 1912 und 1913 unterstützte er als Gegner der Sozialdemokraten eine deutsche Aufrüstung. Er forderte zu Beginn des Kriegs in einer Denkschrift etwa die Annexion Belgiens. „Ich habe damals geglaubt an das Märchen von dem Überfall, ich habe geglaubt an die Verletzung der belgischen Neutralität in den Septembertagen 1914“, sagt er am 25. Juli 1919 rückblickend.
Mit der allmählichen Kenntnis der wahren militärischen Lage wird Erzberger von 1915 an zum Befürworter des Friedens. Am 6. Juli 1917 setzten sich Abgeordnete des katholischen Zentrums für einen Verzicht von Gebietsansprüchen und einen Verständigungsfrieden ein. Die Friedensresolution wurde im Reichstag angenommen, blieb aber wirkungslos. Ungewiss ist, ob sich die Kriegsgegner zu diesem Zeitpunkt noch auf einen Verständigungsfrieden auf der Grundlage des Status quo eingelassen hätten.
Die rhetorische Wucht seines Auftritts, die Treffer in der Anklage an die Adresse der Deutschnationalen und des Militärs muss im Gegensatz zur äußeren Erscheinung Erzbergers gestanden haben. Ein führender Ästhet seiner Zeit, Harry Graf Kessler, hat den Auftritt Erzbergers verfolgt. Hier schaute ein Mann von Welt auf einen Politiker aus der württembergischen Provinz: „Ich stand unmittelbar hinter ihm an der Rednertribüne, sah seine schlecht gemachten, platten Stiefel, seine drolligen Hosen, die über Korkzieherfalten in einem Vollmondhintern münden, seine breiten, untersetzten Bauernschultern, den ganzen fetten, schwitzenden, unsympathischen, kleinstbürgerlichen
Harry Graf Kessler, Beobachter einer Rede Erzbergers
Kerl in nächster Nähe vor mir: jede ungelenke Bewegung des klobigen Körpers, jeden Farbenwechsel in den dicken, prallen Wangen, jeden Schweißtropfen auf der fettigen Stirn.“Und doch entwickelt sich ein Bild der Bewunderung: „Aber allmählich wuchs aus dieser drolligen, schlecht sprechenden, ungeschickten Gestalt die furchtbarste Anklage empor, die schlecht gemachten, schlecht gesprochenen Sätze brachten Tatsache auf Tatsache, schlossen sich zu Reihen und Bataillonen zusammen, fielen wie Kolbenschläge auf die Rechte, die ganz blass und in sich zusammengeduckt und immer kleiner und isolierter in ihrer Ecke saß. Als er das Pacellische Telegramm (in dem der spätere Papst Pius XII. zwischen dem Kaiserreich und den westlichen Kriegsgegnern für einen Frieden zu vermitteln versuchte) verlas, da stieg uns allen das Blut in die Augen.“
Geboren in Buttenhausen
Woher kommt dieser Politiker, der zu einem herausragenden Vertreter der Weimarer Republik wurde. Matthias Erzberger wurde am 20. September 1875 im Münsinger Stadtteil Buttenhausen auf der Schwäbischen Alb geboren. Die Familie gehörte zur kleinen Gruppe der Katholiken in dem Dorf, in dem je zur Hälfte Menschen jüdischen und protestantischen Glaubens wohnten. Die Familie war arm, der Vater Schneider und Postbote.
Der intelligente Junge durfte aber von 1891 bis 1894 das katholische Lehrerseminar in Saulgau besuchen. Die Einrichtung ermöglichte gerade Kindern aus ärmeren sozialen Schichten den Zugang zu höherer Bildung – und versorgte das Land mit Volksschullehrern. Ehemalige Mitschüler wollen bereits damals Fleiß, Strebsamkeit und eine schnelle Auffassungsgabe bei ihrem Mitschüler entdeckt haben. Auch an das Verhandlungsgeschick Erzbergers erinnern sie sich, als der in Berlin schon Karriere gemacht hat. So soll er einem strengen Rektor Sonderausgang und das Abonnement einer großstädtischen Zeitung abgerungen haben. Nach seinem mit Auszeichnung bestandenen Examen war er im Schuldienst in Marbach bei Herbertingen, Göppingen und Feuerbach tätig. Er studierte Nationalökonomie in Freiburg in der Schweiz, war Redakteur und Schriftsteller in Stuttgart – und Berufspolitiker. Als damals jüngster Abgeordneter wurde er für das katholische Zentrum schon 1903 in den Reichstag gewählt. Und machte dort Karriere: Schon 1904 war Erzberger Mitglied der wichtigen Budgetkommission.
Als Reichsminister ohne Geschäftsbereich war Matthias Erzberger ins Kabinett des Sozialdemokraten Philipp Scheidemann eingetreten. Später, unter dem neuen Reichskanzler Gustav Bauer (SPD), wurde Erzberger Reichsfinanzminister und Vizekanzler. In einer Finanzreform vereinheitlicht er gegen manchen Widerstand aus den Ländern das Steuersystem im Deutschen Reich. Diese Reform wirkt bis heute nach.
Doch Erzberger hat Feinde. Seine Gegner werfen ihm vor, von Österreich-Ungarn und Frankreich bestochen zu sein, bezichtigen ihn der Indiskretion. Rechtsradikale Hetze macht ihn zu einer der zentralen Figuren der Dolchstoßlegende. Der frühere deutschnationale Vizekanzler Karl Helfferich verfasst – aus politischer Gegnerschaft, aber wohl auch aus Neid – die Schmähschrift „Fort mit Erzberger“. Erzberger versuchte, mit einer Beleidigungsklage dagegen vorzugehen. Das Gericht verurteilte Helfferich zwar zu einer geringen Geldstrafe, stellt aber fest, dass ihm der Wahrheitsbeweis für einige Anschuldigungen gelungen sei. Erzberger tritt daraufhin als Minister zurück und arbeitet fortan an seiner Rehabilitierung. Erfolgreich. 1920 wird Erzberger abermals in den Reichstag gewählt, für Herbst 1921 kündigt er die Rückkehr in die Politik an.
Mord im Schwarzwald
Aber es kommt nicht so weit. Am 26. August 1921 geben zwei ehemalige Marineoffiziere im Auftrag der rechtsradikalen „Organisation Consul“acht Schüsse auf den Politiker ab, der in Bad Griesbach im Schwarzwald spazieren geht. Die Mörder, Heinrich Schulz und Heinrich Tillessen, fliehen ins Ausland, profitierten aber während der Diktatur der Nationalsozialisten von einer Amnestie für „politische Verbrechen“. Erst auf Druck der Siegermächte wurden sie rechtskräftig verurteilt, kamen Mitte der 50er-Jahre aber frei.
Der Bruch der Erinnerungskultur an Erzberger durch das Naziregime wirkte auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach. Erst im März 2017 setzte der Bundestag ein Zeichen und gab dem Gebäude Unter den Linden 71 in Berlin den Namen „Matthias-Erzberger-Haus“. Der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert bezeichnete dieses Zeichen für „einen Wegbereiter der Demokratie zwischen Kaiserreich und Demokratie“als längst überfällig. Erzberger personifiziere das im Kaiserreich „gewachsene Selbstbewusstein des Parlaments“.
Das Grab von Matthias Erzberger befindet sich auf dem alten katholischen Friedhof in Biberach, sein Geburtshaus in Buttenhausen wurde zur Erinnerungsstätte umgestaltet.
„Sätze schlossen sich zu Bataillonen und fielen wie Kolbenschläge auf die Rechte.“