Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Kaum Erleichterung über Kriegsende
Hunger und Trauer bestimmten im November 1918 die Gemütslage in Ravensburg
RAVENSBURG - Der Krieg war endlich vorbei: Vor 100 Jahren, am 11. November 1918. Deutschland und Frankreich schlossen ein Waffenstillstandsabkommen, woraufhin auch viele Ravensburger Soldaten heimkehren konnten. Doch die Gründe zur Freude hielt sich in Grenzen. Während des Krieges waren viele Ravensburger gefallen. Der ehemalige Ravensburger Stadtarchivar Peter Eitel hat bei der Recherche für sein Buch „Ravensburg im 19. und 20. Jahrhundert“verschiedene Zahlen gefunden: Zwischen 388 und 433 Ravensburger müssen demnach im Krieg gestorben sein.
„Wenn man die Kriege, die Deutschland in der Neuzeit erlebt hat, miteinander vergleicht, so zeigt sich, dass bei keinem anderen Krieg das Kriegsende mit so wenig Erleichterung verbunden war wie im Jahr 1918“, schreibt Eitel.
Grund dafür sei einerseits die Enttäuschung über das aus militärischer Sicht unglückliche Ende des Krieges gewesen. Die Mehrheit der Bevölkerung habe der optimistischen Einschätzung der Kriegslage Glauben geschenkt, die von der amtlichen Propaganda verbreitet wurde. Andererseits wurde die Gemütslage gedämpft durch die sozialen Verwerfungen, die im selben Jahr zur Novemberrevolution führten. Die Revolutionsbewegung hatte die parlamentarische Demokratie zum Ziel. Sie löste die Monarchie ab, das Kaiserreich war beendet und mündete in die Weimarer Republik.
Das Leid der Ravensburger Bevölkerung – damals rund 16 000 Menschen – lässt sich auch an Zahlen ablesen. 1918 wurden nach Eitels Recherchen 504 Sterbefälle registriert. Das war demnach damals die höchste Sterbeziffer, die es in Ravensburg seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges gegeben hatte. Davon handelte es sich lediglich in 99 Fällen um gefallene Soldaten. 196 Todesfälle betrafen Kinder unter einem ANZEIGE Jahr. Die Menschen waren ausgehungert. Kriegsnot und die Verluste, unter denen fast jede Familie zu leiden hatte, vereinten. Gleichzeitig entstand angesichts der knappen Nahrungsmittelvorräte Neid, man fürchtete, andere bekämen mehr.
Nach Kriegsende musste die Stadt Ravensburg nicht nur die während des Krieges in der Stadt verbliebenen Menschen versorgen, sondern auch die heimkehrenden Soldaten, wie es im Buch „Im Zeichen des Krieges – Der Erste Weltkrieg und Ravensburg“von Ina Szymnau heißt. Erst im Sommer 1919, als aus dem Waffenstillstand ein offizieller Friedensschluss wurde, seien ausländische Lebensmittel wieder billiger geworden und die Lage habe sich allmählich verbessert. Aber vielen Arbeitern ging das nicht schnell genug: Sie demonstrierten vor dem Ravensburger Rathaus gegen die ungerechte Lebensmittelverteilung.
Diejenigen Männer, die 1918 aus dem Krieg zurückkehrten, wurden sehnlichst erwartet. Die Zahl der Hochzeiten stieg in den letzten beiden Monaten des Jahres 1918 steil an. Im Folgejahr wurden insgesamt 201 Ehen geschlossen, fast doppelt so viele wie in den Vorkriegsjahren im Durchschnitt, wie Eitel recherchiert hat.
Die größten Veränderungen hatte der Krieg Eitels Schilderungen zufolge in den Köpfen der Menschen hinterlassen – durch die Bilder des Krieges und durch die Erfahrung des Hungerns. Als Reaktion auf die militärischen Todesfälle entwickelte sich laut Szymnau ein regelrechter Totenkult. Die Verehrung der Gefallenen könne auch als Versuch interpretiert werden, dem Krieg einen Sinn abzugewinnen, schreibt sie. Von 1919 an fand demnach jährlich an Allerheiligen eine Kriegergedächtnisfeier in Ravensburg statt. Vereine und Angehörige zogen auf den städtischen Friedhof zu den Kriegsgräbern. Mit dabei waren laut Szymnau in der Regel der Chor, der Fußballverein, der katholische Arbeiterverein, der Militärverein, Musikverein, die Sanitätskolonne, der Turnverein und der Zentralverein der Kriegsbeschädigten.
Neues Selbstbewusstsein der Frauen
Neu war nach dem Ersten Weltkrieg laut Eitel das Selbstbewusstsein der Frauen. „Sie waren die eigentlichen Heldinnen der ,Heimatfront’“, schreibt er. Weitsichtigen Politikern sei damals schon klar gewesen, dass daraus die Forderung nach mehr Mitbestimmung erwächst. Eine erste Errungenschaft in Ravensburg: Einem nach dem Krieg gegründeten Ausschuss zur Lebensmittelverteilung in Ravensburg gehörten Vertreter aller Verbrauchergruppen an, wie es in Szymnaus Buch heißt. Auch Frauen.