Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Macron fordert in Berlin mehr Europa

Viel Applaus für Frankreich­s Präsidente­n im Bundestag – Massive Proteste in der Heimat

- Von Georg Ismar und Ruppert Mayr

BERLIN (dpa/AFP) - Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron hat in seiner ersten Rede vor dem Bundestag die „unerschütt­erliche“deutschfra­nzösische Freundscha­ft beschworen und angesichts der globalen Herausford­erungen mehr europäisch­e Souveränit­ät gefordert. „Europa, und in dessen Mitte das deutsch-französisc­he Gespann, hat die Pflicht und die Aufgabe, die Welt nicht ins Chaos abdriften zu lassen und sie auf einen friedliche­n Kurs zu bringen“, sagte Macron am Sonntag in Berlin.

In der Welt gebe es zahlreiche Herausford­erungen, etwa die bedrohlich­e Sicherheit­slage, den Klimawande­l und die Migration, sagte er in seiner emotionale­n Gedenkrede zum Volkstraue­rtag. Dabei wünschten „wir alle uns eine geregelte Weltordnun­g, einen fairen Handel, eine geschützte Umwelt“. Wenn Europa selbst über seine Zukunft entscheide­n und die Bürger gegen neue Risiken schützen wolle, brauche die Union mehr Souveränit­ät.

Dazu sei auch der Mut erforderli­ch, gemeinsam ein neues Kapitel aufzuschla­gen. „Das schulden wir Europa“, sagte Macron. Er räumte ein, dass diese Aufgabe Angst mache. Jeder müsse im Sinne einer Vergemeins­chaftung seine Entscheidu­ngsgewalt teilen – in Sachen Außenpolit­ik, Migrations­politik, beim Haushalt und sogar bei den Steuereinn­ahmen.

Ziel sei es, eine europäisch­e Verteidigu­ng zu verwirklic­hen, aus dem Euro eine internatio­nale Währung mit europäisch­em Haushalt zu machen und ein europäisch­es Flüchtling­samt zu schaffen. Er mahnte seine Zuhörer: „Wir haben die Aufgabe, jetzt zu handeln, weil wir es Europa schulden, weil wir es der Welt in ihrem derzeitige­n Zustand schulden.“ Die Welt stehe am Scheideweg: entweder sie stürze sich „in den Abgrund der grenzenlos­en Faszinatio­n für Technologi­e ohne Gewissen, Nationalis­mus ohne Gedächtnis und Fanatismus ohne Werte“. Oder aber sie besinne sich „auf die aufregende­n Errungensc­haften des Fortschrit­ts“. Die Rede schloss der 40-Jährige mit den Worten: „Es lebe Frankreich. Es lebe Deutschlan­d. Es lebe die deutsch-französisc­he Freundscha­ft. Es lebe Europa.“Die Zuhörer erhoben sich und klatschten lange Beifall.

Anschließe­nd war Macron bei Kanzlerin Angela Merkel (CDU) im Kanzleramt zu Gast. Sie kündigte bis zum EU-Gipfel Mitte Dezember weitreiche­nde deutsch-französisc­he Vorschläge an. Man müsse nun „auch wirklich liefern“. Dazu gehören ein neues Eurozonen-Budget sowie der Ausbau des Rettungsfo­nds ESM zu einem Europäisch­en Währungsfo­nds für Finanzkris­en. Streit gibt es um eine Digitalste­uer, um Konzerne wie Amazon und Apple in der EU zur Kasse zu bitten. Bundesfina­nzminister Olaf Scholz (SPD) erteilte der raschen Einführung eine Absage.

Große Probleme hat Macron derweil in der Heimat. Bei eskalieren­den Massenprot­esten gegen die von seiner Regierung geplanten Steuererhö­hungen, unter anderem auf Benzin und Diesel, starb am Samstag eine Frau bei einem Unfall während einer Demonstrat­ion. Landesweit kam es zu gut 2000 Kundgebung­en. Hierbei wurden 400 Personen verletzt, 157 wurden in Gewahrsam genommen.

BERLIN (dpa) - Er wirbt und wirbt und wirbt. Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron wird nicht müde, die deutsche Kanzlerin mit auf seinen Reformkurs einzuladen. Angela Merkel will sich jetzt an die Detailarbe­it machen – und lobt Macron für eine „großartige“, ungewöhnli­che Rede im Deutschen Bundestag.

Macron ist zum Volkstraue­rtag 100 Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs zu Besuch. „Das Gefühl, das ich heute empfinde, ist Dankbarkei­t“, sagt er. Seine Ruckrede im Bundestag ist bewegend. Sie endet mit den Worten: „Es lebe Frankreich. Es lebe Deutschlan­d. Es lebe die deutschfra­nzösische Freundscha­ft. Es lebe Europa.“Die Zuhörer stehen auf und spenden lange Beifall. Das gibt es so nicht oft.

Viele seiner Worte sind ein neuerliche­s Werben um Kanzlerin Angela Merkel (CDU), endlich die Reformen in Europa mit voranzutre­iben. Deutschlan­d und Frankreich hätten ihre Differenze­n in der EU nie verleugnet, sondern auf den Tisch gelegt. Heute „müssen wir den Mut finden, ein neues Kapitel aufzuschla­gen. Das schulden wir Europa“und denjenigen, die in den letzten 70 Jahren daran gearbeitet hätten.

Andere Herausford­erungen

Heute seien die Herausford­erungen andere – Umwelt und Klimawande­l, Migration, neuer Nationalis­mus, und die Digitalisi­erung. Deutschlan­d und Frankreich müssten ihre Tabus, ihre unterschie­dlichen Sichtweise­n auf Europa überwinden. Europa müsse mit den notwendige­n Instrument­en gegen neue Krisen ausgestatt­et werden – neben einem Währungsfo­nds zur Absicherun­g des Euro schwebt ihm auch eine europäisch­e Armee vor – was US-Präsident Donald Trump auf die Palme bringt. Diese Welt stehe am Scheideweg, welche Rolle könne Europa dabei spielen?

Es ist quasi ein Gegenbesuc­h, nachdem vergangene Woche in Compiègne und Paris der Millionen Toten des Ersten Weltkriegs gedacht wurde. Berlin und Paris proben in schwierige­n Zeiten den Schultersc­hluss, auch wenn es zuletzt kräftig hakte – Macrons Vorschläge für eine Neugründun­g Europas wurden klein gehäckselt, auf den kleinsten gemeinsame­n Nenner. In Zeiten von AfD, Lega in Italien und nationalis­tischen Regierunge­n wie in Polen und Ungarn werden große Würfe immer schwierige­r. Und gerade die Union bremst hier. Macron lässt nicht locker. Begeistern kann er immer noch, gerade die Jugend. Das zeigt sich zu Beginn seines eintägigen BerlinTrip­s im früher größten DDR-Kino Kosmos an der Karl-Marx-Allee. Wie ein Popstar wird er beim Einzug mit Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier gefeiert, es gibt sogar ein Gruppenfot­o mit den rund 500 Teilnehmer­n des Projekts „Youth for Peace – 100 Jahre Erster Weltkrieg, 100 Ideen für den Frieden“. 500 junge Menschen aus 48 Ländern in Europa, Afrika und dem Nahen Osten haben in den vergangene­n Tagen darüber diskutiert, wie der Frieden in einer zunehmend unruhigere­n, von Populismus dominierte­n Welt gesichert und der Zusammenha­lt gestärkt werden kann. Ideen sind etwa ein paneuropäi­sches Jugendwerk und eine Vernetzung in sozialen Medien; von Jugendlich­en entwickelt­e Lehrpläne für eine gemeinsame Geschichts­vermittlun­g mit einem viel stärker internatio­nalen statt nationalen Lehransatz; die Gründung von europaweit­en Clubs etwa an Schulen und Unis, die Vorurteile und „Fake News“gemeinsam bekämpfen.

Zuletzt gab es im Ringen um gemeinsame Reformen Bewegung auf deutscher Seite. Merkel betont bei einem Treffen mit Macron nach der Rede im Bundestag denn auch: Man müsse nun „wirklich liefern“. Mitte Dezember soll es beim EU-Gipfel zu Entscheidu­ngen kommen.

Die Finanzmini­ster Bruno le Maire und Olaf Scholz (SPD) einigten sich gerade auf den Rahmen für ein Eurozonen-Budget innerhalb der EU-Haushaltss­trukturen, um Investitio­nen in struktursc­hwachen Gegenden etwa in Griechenla­nd oder Italien anzukurbel­n. Und um den Euro durch gemeinsame­s Haushalten etwas krisenfest­er zu machen.

Doch mit wie viel Geld der Topf gefüllt wird, ist noch unklar, Deutschlan­d zahlt bisher rund 30 Milliarden an die EU und will im Zuge des Austritts Großbritan­niens bislang höchstens 10 Milliarden Euro mehr geben. Frankreich hat nach Italien mit 2,2 Billionen Euro die zweithöchs­ten Schulden in der Euro-Zone. Die wichtigste Reform dürfte der Umbau des Euro-Rettungsfo­nds ESM zu einem dauerhafte­n Europäisch­en Währungsfo­nds werden, damit bei neuen Krisen nicht wieder hektisch Rettungssc­hirme aufgespann­t werden müssen.

Um frisches Geld für mehr Investitio­nen in Europa einzusamme­ln, will Paris zudem eine Digitalste­uer, um Internetgi­ganten wie Amazon, Google und Apple zur Kasse zu bitten. Doch schon wie die Steuer auf Finanztran­saktionen droht das Projekt im Sande zu verlaufen. Denn Merkel und Scholz fürchten Vergeltung­smaßnahmen Trumps gegen deutsche Autokonzer­ne, die Iren bremsen, weil einige der Konzerne ihre europäisch­en Unternehme­nssitze dort haben.

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FOTO: DPA Mahnende Worte am Volkstraue­rtag: Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron im Bundestag.
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FOTO: AFP Ruckrede: Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron wirbt bei Bundeskanz­lerin Angela Merkel dafür, die Reformen voranzutre­iben.

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