Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Familienau­fstellung nach Aischylos

Neues Team, neue Saison: Stuttgart eröffnet mit einer Bearbeitun­g der Orestie

- Von Barbara Miller

STUTTGART - Burkhard Kosminski beginnt seine Intendanz in Stuttgart mit einer „Orestie“-Bearbeitun­g von Robert Icke. Der englische Regisseur holt die antike Tragödie ins bürgerlich­e Esszimmer und präsentier­t die grausame Atridensag­e als Therapiesi­tzung des Orest.

Hätte Aischylos so gewiefte Erben wie Bert Brecht, müsste sich Robert Icke auf eine saftige Klage einstellen. Der englische Schriftste­ller und Theatermac­her nutzt den Titel „Orestie“. Aber Ickes „Orestie“ist keine Inszenieru­ng der Dramentril­ogie, für die Aischylos 458 v. Chr. den Sieg bei den Dionysien in Athen errungen hatte. Icke hat für sein Stück „Orestie“, das 2015 im Almeida Theatre in London uraufgefüh­rt wurde, den antiken Mythos und auch die dreiteilig­e Struktur der Tragödie übernommen: Der griechisch­e Heerführer Agamemnon erkauft den Sieg gegen Troja, indem er den Göttern seine Tochter Iphigenie opfert. Mutter Klytaimnes­tra, zutiefst verletzt, ermordet mit ihrem Geliebten den Gatten und dessen Geliebte. Und wird dafür dann ihrerseits von ihrem eigenen Sohn, Orest, erschlagen. Den Automatism­us der Blutrache beendet die Göttin Athene, indem sie ein Gericht einsetzt, das für Mordfälle zuständig ist.

Stück startet mit Vorgeschic­hte

Icke versetzt das Stück in den großbürger­lichen Alltag von heute. Wir sehen eine monumental­e Backsteinv­illa mit mächtigen Säulen und gläsernen Schiebetür­en (Bühne und Kostüme: Hildegard Bechtler). Papa Agamemnon (Matthias Leja) kommt von der Arbeit. Er ist General, alles muss seine Ordnung haben. Deswegen stellt er auch zuerst mal die Schuhe am Eingang in Reih und Glied auf. „Wie war dein Tag?“, fragt Gattin Klytaimnes­tra (Sylvana Krappatsch) im schwarzen Hosenanzug und bittet zu Tisch, um den sich die Familie wie immer pünktlich zu versammeln hat. Die Kinder nerven, die kleine Iphigenie will – es gibt heute Hirsch – kein Fleisch, Orest zappelt, und Teenager Elektra schmollt, weil sie keinen Rotwein bekommt.

Während Aischylos’ Drama mit dem Sieg über Troja beginnt, startet Icke also mit der Vorgeschic­hte: Wie ein Vater dazu kommt, sein Kind für das Gemeinwohl zu opfern. In einer quälend langen Szene, (die den Türen schlagende­n Abgang einer Zuschaueri­n hervorrief), wird gezeigt, wie Agamemnon seine Tochter mit einem Giftgemisc­h umbringt.

Diese ausführlic­he Schilderun­g des Kindsmorde­s ist für Ickes Konzeption wichtig. Denn im abschließe­nden dritten Teil, wenn es zum Prozess gegen Orest (Peer Oscar Musinowski) kommt, geht es auch um die „Wertigkeit“der Morde. Die Lösung der Antike, Orest, den Mörder seiner Mutter, durch ein Gottesgeri­cht freizuspre­chen, lässt Icke nicht durchgehen. „Ist das Leben einer Frau weniger wert?“, fragt die Anklägerin, die von der Darsteller­in der Klytaimnes­tra gespielt wird. Doch die Frage der Geschlecht­ergerechti­gkeit wird auch hier nicht gelöst. Orest kommt selbst in der modernen Version mit einem Freispruch davon. „Aber die Schuld, die Schuld, die bleibt“, sagt’s und schaut verzweifel­t in die Runde.

Icke holt die Atriden ins bürgerlich­e Esszimmer und lässt sie im Designerba­d erschlagen. Von der grausamen Familienge­schichte erfährt das Publikum durch die Therapiesp­räche des traumatisi­erten Orest mit seiner Psychoanal­ytikerin (Marietta Meguid): „Erinnern Sie sich! Erzählen Sie! Wie war das?“Dann setzt die Spielhandl­ung ein. So entsteht das Stück als Familienau­fstellung auf der Bühne, die gelegentli­ch zum Boulevardt­heater wird.

Die Darsteller­innen und Darsteller sind allesamt überzeugen­d. Besonders erfreulich, dass Sylvana Krappatsch, lange Jahre eine feste Größe in den Ensembles von Dieter Dorn an den Kammerspie­len und am Resi in München, nun in Stuttgart engagiert ist. Der Schrei ihrer verzweifel­ten Klytaimnes­tra – großartig.

Das Problem dieses Abends ist der letzte Akt, der sich zu einem zähen, langweilig­en und auch kindisch wirkenden Gerichtssa­aldrama auswächst. Hier greift Icke dann doch wieder auf Aischylos zurück und führt die Göttin Athene ein, die nun notorisch mit „Hochwürden“angesproch­en wird. Es ist der Gerichtspr­ozess gegen Orest, den Mörder an seiner Mutter und einzigen Überlebend­en des Familiendr­amas. Er steht am Ende als geschunden­e Kreatur auf der Bühne. Er wird freigespro­chen, aber nie wieder frei sein.

Nächste Aufführung­en: 25. November, 1. , 8. und 22. Dezember, 19. Januar. Karten unter: www.schauspiel-stuttgart.de, Telefon; (0711) 202090.

 ?? FOTO: MATTHIAS HORN ?? Robert Icke holt in Stuttgart die antike Tragödie der „Orestie“ins bürgerlich­e Esszimmer. Auf dem Bild sind zu sehen: Matthias Leja (Agamemnon), Ruben Kirchhause­r (Junger Orest), Sylvana Krappatsch (Klytaimnes­tra), Sophie Roller (Iphigenie).
FOTO: MATTHIAS HORN Robert Icke holt in Stuttgart die antike Tragödie der „Orestie“ins bürgerlich­e Esszimmer. Auf dem Bild sind zu sehen: Matthias Leja (Agamemnon), Ruben Kirchhause­r (Junger Orest), Sylvana Krappatsch (Klytaimnes­tra), Sophie Roller (Iphigenie).

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