Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Ein wahrhaft totgeschwiegenes Thema
Rudi Friedrich und Talib Richard Vogl thematisieren Desertion und Militärstreik im Ersten Weltkrieg
WEINGARTEN - Auch nach dem Gedenken an den Waffenstillstand am 11. November 1918 sind mitnichten alle Aspekte des Ersten Weltkrieges aufgearbeitet. Im Rahmen der szenischen Lesung „Krieg? – Ohne uns!“, veranstaltet von Pax Christi Ravensburg und von Amnesty International Ravensburg/Weingarten, ging es im Kleinen Saal der Linse um das Thema Desertion und Militärstreik im Ersten Weltkrieg.
Ein wandfüllendes Foto in Sepiabraun zeigt Soldaten auf einem Weg durch Morast, hinter ihnen ragen die verkohlten Stümpfe eines verwüsteten Waldes auf. Vor dem Banner ein paar Requisiten, Mützen und Jacken, eine Trommel und eine Trompete. Rudi Friedrich, der sich seit Jahrzehnten im Rahmen seiner Arbeit für den Verein Connection mit Desertion beschäftigt, führt ein in das Thema und nimmt mit seiner unverstellten Sachlichkeit sofort gefangen: die nackten Daten, hundertmal gelesen, gehört und ebenso oft wieder verdrängt, kann man sich in der heutigen Zeit nicht oft genug wieder einprägen.
„Menschen- und Materialschlacht“
40 Staaten haben sich an diesem „ersten industrialisiert geführten Krieg“mit 70 Millionen Soldaten beteiligt, 17 Millionen Tote war die Bilanz dieser „Menschen- und Materialschlacht“. Friedrich schildert die Seiten des Krieges, die nie im Fokus der Öffentlichkeit gestanden hätten: die Meuterei der Marine im Jahr 1918, die eine Million Deserteure, die Masse der schwersttraumatisierten Soldaten, die als „Drückeberger“verachtet und mit Elektroschocks und Dauerbädern „behandelt“wurden. All dies sei wegen der „Dolchstoß“-Propaganda
ANZEIGE der Generalität, die auf Kosten ihrer Untergebenen den Krieg fortsetzen wollte, bis in die späten 1920er-Jahre im Verborgenen geblieben.
Eindrücklich wurde die szenische Lesung von Rudi Friedrich und Talib Richard Vogl, Gitarrist, Sänger und Sprecher, durch die ausschließlich im Original zitierten Texte von vier Soldaten: dem Autor Wilhelm Lehmann (1882-1968), dem elsässischen Landwirt Dominik Richert (1893-1977), dem Zinngießer und Marinesoldaten Richard Stumpf (1892-1958) und dem Freiwilligen Ernst Toller (1893-1939), der 1933 seine Erinnerungen an die Psychiatrie in dem Buch „Eine Jugend in Deutschland“publizierte.
Mit diesem Programm sind Friedrich und Vogl 2018 in ganz Deutschland auf Tournee. Und sie bringen es fertig, dass jeder Tagebuchauszug und jedes Gedicht oder Lied, das sie zusammen mit Trommelschlägen, Trompete, Gitarre und Gesang intonieren, unter die Haut geht – sei es durch die Art der Sprache, mal ihre Arglosigkeit oder ihre zynische Schärfe, mal durch die Sachlichkeit der Beschreibungen oder ihre Emotionalität.
Auf der langen Liste von Literatur, die sie für ihre Lesung benutzen, stehen auch Werke von Bertold Brecht, Oskar Maria Graf, Karl Kraus und Kurt Tucholsky, des Dadaisten Hugo Ball oder des Lyrikers Ernst Jandl. Letzterer wird mit seiner Wortkunst und dem kakofonischen Gedicht „Schtzngrmm“(Schützengraben) von beiden eindrucksvoll in Szene gesetzt. Zum Abschluss das unvergleichliche Lied „Le déserteur“von Boris Vian aus dem Jahr 1954, ein Appell des Pazifismus, und der Ausblick in die Gegenwart.
Eine Veranstaltung zum Nachlesen, Nachdenken und Nachsinnen, der man einen richtig vollen Saal gewünscht hätte.