Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Im Haus vom Nikolaus
Vor über 900 Jahren wurden die Gebeine des legendären Bischofs von Myra ins italienische Bari entführt – und lassen dort auch heute noch die Kassen klingeln
An der Bushaltestelle am Corso Vittorio Emanuele II wacht der Nikolaus übergroß hinter den Wartenden, zwei Finger gespreizt zum VictoryZeichen. Oder doch den Segen spendend? Seine Heiligenbildchen prangen blumenumkränzt über Torbögen in der Altstadt. Als Pixel-Puzzle ist der Nikolaus in einem plakatgroßen Mosaik an der Via Filippo Corridoni verewigt, und – ja – die bei uns so beliebten Klettermaxe-Nikoläuse klammern sich auch in Bari an die von Fassaden herunterbaumelnden Lichterketten-Lianen (oder sollten es am Ende Weihnachtsmänner sein?). Es ist wie beim Hase-und-Igel-Spiel in der fast schachbrettartig angelegten Altstadt der süditalienischen 300 000Einwohner-Metropole: Wo immer man um die Ecke biegt – der Nikolaus ist schon da, in stets neuen Verkleidungen und Kopien.
Entführt aus Myra
Aber wo wohnt nun das Original? Sein Heim, eine romanische Basilika am Rande der Altstadt wirkt etwas schmucklos, denn sie musste ja fix errichtet werden, damals im Frühjahr 1087, weil Nikolaus so überraschend nach Bari kam. Genauer gesagt, das, was von ihm übrig war – seine Gebeine. Per Schiff liefen sie in den Hafen ein, tollkühn entführt aus der heutigen Türkei, nahe dem Badeort Antalya. 62 Kaufleute und Matrosen aus Bari waren dorthin aufgebrochen, weil man in der italienischen Adriastadt schon damals befürchtete – nun ja – touristisch ins Hintertreffen zu geraten: Venedig lockte zahlungskräftige Pilger mit seinem heiligen Markus, Salerno mit dem Apostel Matthäus und Genua mit den Gebeinen Johannes, des Täufers. Um ebenfalls reichlich gläubige Übernachtungsgäste anzuziehen, brauchte Bari dringend auch so einen Stadtheiligen, hatte aber – wie die meisten anderen auch – selbst keinen hervorgebracht. Also musste er eben gekidnappt werden – übliche Praxis damals.
In Myra angekommen, tarnte sich die Schiffsbesatzung aus Bari als demütige Pilgergruppe, ließ sich das Grab des Bischofs Nikolaus zeigen und hebelte es auf. Zwei Männer verbargen die Gebeine unterm Gewand, zogen mit der Gruppe unter religiösem Murmelgesang zügig runter zum Schiff und waren schon auf offener See, als die düpierten Einwohner Myras wütend am Strand eintrafen. In Bari wurden Nikolaus’ sterbliche Überreste in der Krypta der Basilika gleich gut weggeschlossen, ruhen bis heute in einer Art betoniertem Castor-Behälter mit schmiedeeisernem Kamingitter. Könnte ja sein, dass die Beraubten sich ihre Gebeine zurückholen wollen. Genau dazu hat die türkische NikolausStiftung aufgerufen – zuletzt 2003 …
Niemals darf das passieren, sagen sie in Bari. Dank Nikolaus ist die Stadt unkündbares Mitglied in der Champions League der Pilgerorte. Denn wer hat schon so einen Universalheiligen mit beispiellos weißer Weste und weltumspannender Beliebtheit? Nikolaus ist Beschützer der Apotheker und Schüler, Fischer und Schiffer, der Diebe, Schnapsbrenner, Parfümhändler, Kerzenzieher und Getreidehändler. Um nur einige zu nennen. Als russischer Nationalheiliger kommt er in der Ostkirche gleich nach dem lieben Gott: „Sollte der mal sterben, machen wir Nikolaus zum Nachfolger“, sagt ein altes slawisches Sprichwort. Schon vor seinem Tode im 4. Jahrhundert nach Christus galt Nikolaus, der Bischof von Myra, als gütiger, mildtätiger Kirchenfürst, rettete angeblich Schiffsbesatzungen aus Seenot, als er Wellen glättete, und bewahrte drei arme Frauen vorm Abrutschen in die Prostitution, in dem er – so erzählt man sich – nachts Goldklumpen in ihre Wohnung warf.
Verwitterter Charme
Darum hält er bis heute drei Kugeln in der Hand, auch auf jedem Bild in Bari, ob in verwitterten Stein gehauen oder in Hauseingängen auf vergilbten Ikonen, deren ewiges Licht von schummrigen Energiesparbirnen gespendet wird. Das passt zum Vintage-Charme dieser Stadt: Poröse Fassaden in allen Pastellfarben, die ein Tuschkasten hergibt.
Herunterhängende Stromleitungen, verwitterte Fensterläden und Gassen mit grünen und blauen Türen. Mittendrin Frauen in Kittelschürzen, die auf Holzstühlen ein Schwätzchen halten. Baris Altstadt ist authentisches Wohnviertel geblieben – Italia ohne Bella. Immerhin, die Touri-Zone ist begrenzt auf die Straßen rund um die Basilika. Hier muss San Nicolo für alles herhalten: Als Name an Cafés, Boutiquen und Fischläden, am Nippes-Stand ist er auf Tellern, Tassen und Wimpeln präsent. Vor gut zehn Jahren wurden Touristen noch von der Polizei eskortiert, nicht nur, weil man Nana Mouskouri in Bari angeblich mal ihre Handtasche stibitzt hatte. Etwas versteckt erinnert auch noch das Denkmal für den 2001 erschossenen, 16-jährigen Michele Fazio an kriminelle Zeiten. Heute kommen Besucher gefahr- und zwanglos ins Gespräch mit den vielen Obst- und Gemüsehändlern oder mit Porzia Petroni. Strahlend steht sie vor ihrem Haus in der Jesuitengasse Nr. 8. Ihr Arbeitswerkzeug: der erhobene Zeigefinger. Wie viele Frauen formt die Nudelfabrikantin mit der Fingerkuppe Orecchiette, die sogenannten Öhrchen-Nudeln und erklärt vorbeischlendernden Besuchern gerne, wie diese Spezialität aus Bari entsteht.
Die Farbe der Öhrchen-Nudeln gleicht der des Nikolaus-Gewandes in der Basilika: Im goldgelben Mantel steht dort eine meterhohe Statue. Sie hat einmal im Jahr ihren großen Tag. Nein, nicht am 6. Dezember – da wird nur ein bisschen gefeiert, sondern am 9. Mai, dem Jahrestag des erfolgreich abgeschlossenen Heiligen-Kidnappings also. Frühmorgens wird die Nikolaus-Statue aus der Basilika durch die Stadt getragen, mit goldenem Heiligenschein und Rauschebart. Die Straßen sind dann gesäumt von mehr als 20 000 Schaulustigen. Alte und Kranke erhoffen sich Segnung und Erlösung in dieser Prozession, spätestens beim alljährlichen Highlight: Kirchenmänner öffnen die Tür von Nikolaus’ Krypta, einer kriecht hinein und zapft das Myron ab, ein Wässerchen, das angeblich regelmäßig aus den Gebeinen entweicht. Obwohl wohl eher Kondenswasser, soll es angeblich heilende Wirkung haben, auch in verdünnter Form. Denn bevor das Myron in Fläschchen zu kaufen ist, wird es noch ein wenig gestreckt. Damit man mehr davon hat, vor allem beim Profit. Sie sind eben immer noch mit allen heiligen Wassern gewaschen, hier in Bari.