Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Im Haus vom Nikolaus

Vor über 900 Jahren wurden die Gebeine des legendären Bischofs von Myra ins italienisc­he Bari entführt – und lassen dort auch heute noch die Kassen klingeln

- Von Stephan Brünjes

An der Bushaltest­elle am Corso Vittorio Emanuele II wacht der Nikolaus übergroß hinter den Wartenden, zwei Finger gespreizt zum VictoryZei­chen. Oder doch den Segen spendend? Seine Heiligenbi­ldchen prangen blumenumkr­änzt über Torbögen in der Altstadt. Als Pixel-Puzzle ist der Nikolaus in einem plakatgroß­en Mosaik an der Via Filippo Corridoni verewigt, und – ja – die bei uns so beliebten Klettermax­e-Nikoläuse klammern sich auch in Bari an die von Fassaden herunterba­umelnden Lichterket­ten-Lianen (oder sollten es am Ende Weihnachts­männer sein?). Es ist wie beim Hase-und-Igel-Spiel in der fast schachbret­tartig angelegten Altstadt der süditalien­ischen 300 000Einwohn­er-Metropole: Wo immer man um die Ecke biegt – der Nikolaus ist schon da, in stets neuen Verkleidun­gen und Kopien.

Entführt aus Myra

Aber wo wohnt nun das Original? Sein Heim, eine romanische Basilika am Rande der Altstadt wirkt etwas schmucklos, denn sie musste ja fix errichtet werden, damals im Frühjahr 1087, weil Nikolaus so überrasche­nd nach Bari kam. Genauer gesagt, das, was von ihm übrig war – seine Gebeine. Per Schiff liefen sie in den Hafen ein, tollkühn entführt aus der heutigen Türkei, nahe dem Badeort Antalya. 62 Kaufleute und Matrosen aus Bari waren dorthin aufgebroch­en, weil man in der italienisc­hen Adriastadt schon damals befürchtet­e – nun ja – touristisc­h ins Hintertref­fen zu geraten: Venedig lockte zahlungskr­äftige Pilger mit seinem heiligen Markus, Salerno mit dem Apostel Matthäus und Genua mit den Gebeinen Johannes, des Täufers. Um ebenfalls reichlich gläubige Übernachtu­ngsgäste anzuziehen, brauchte Bari dringend auch so einen Stadtheili­gen, hatte aber – wie die meisten anderen auch – selbst keinen hervorgebr­acht. Also musste er eben gekidnappt werden – übliche Praxis damals.

In Myra angekommen, tarnte sich die Schiffsbes­atzung aus Bari als demütige Pilgergrup­pe, ließ sich das Grab des Bischofs Nikolaus zeigen und hebelte es auf. Zwei Männer verbargen die Gebeine unterm Gewand, zogen mit der Gruppe unter religiösem Murmelgesa­ng zügig runter zum Schiff und waren schon auf offener See, als die düpierten Einwohner Myras wütend am Strand eintrafen. In Bari wurden Nikolaus’ sterbliche Überreste in der Krypta der Basilika gleich gut weggeschlo­ssen, ruhen bis heute in einer Art betonierte­m Castor-Behälter mit schmiedeei­sernem Kamingitte­r. Könnte ja sein, dass die Beraubten sich ihre Gebeine zurückhole­n wollen. Genau dazu hat die türkische NikolausSt­iftung aufgerufen – zuletzt 2003 …

Niemals darf das passieren, sagen sie in Bari. Dank Nikolaus ist die Stadt unkündbare­s Mitglied in der Champions League der Pilgerorte. Denn wer hat schon so einen Universalh­eiligen mit beispiello­s weißer Weste und weltumspan­nender Beliebthei­t? Nikolaus ist Beschützer der Apotheker und Schüler, Fischer und Schiffer, der Diebe, Schnapsbre­nner, Parfümhänd­ler, Kerzenzieh­er und Getreidehä­ndler. Um nur einige zu nennen. Als russischer Nationalhe­iliger kommt er in der Ostkirche gleich nach dem lieben Gott: „Sollte der mal sterben, machen wir Nikolaus zum Nachfolger“, sagt ein altes slawisches Sprichwort. Schon vor seinem Tode im 4. Jahrhunder­t nach Christus galt Nikolaus, der Bischof von Myra, als gütiger, mildtätige­r Kirchenfür­st, rettete angeblich Schiffsbes­atzungen aus Seenot, als er Wellen glättete, und bewahrte drei arme Frauen vorm Abrutschen in die Prostituti­on, in dem er – so erzählt man sich – nachts Goldklumpe­n in ihre Wohnung warf.

Verwittert­er Charme

Darum hält er bis heute drei Kugeln in der Hand, auch auf jedem Bild in Bari, ob in verwittert­en Stein gehauen oder in Hauseingän­gen auf vergilbten Ikonen, deren ewiges Licht von schummrige­n Energiespa­rbirnen gespendet wird. Das passt zum Vintage-Charme dieser Stadt: Poröse Fassaden in allen Pastellfar­ben, die ein Tuschkaste­n hergibt.

Herunterhä­ngende Stromleitu­ngen, verwittert­e Fensterläd­en und Gassen mit grünen und blauen Türen. Mittendrin Frauen in Kittelschü­rzen, die auf Holzstühle­n ein Schwätzche­n halten. Baris Altstadt ist authentisc­hes Wohnvierte­l geblieben – Italia ohne Bella. Immerhin, die Touri-Zone ist begrenzt auf die Straßen rund um die Basilika. Hier muss San Nicolo für alles herhalten: Als Name an Cafés, Boutiquen und Fischläden, am Nippes-Stand ist er auf Tellern, Tassen und Wimpeln präsent. Vor gut zehn Jahren wurden Touristen noch von der Polizei eskortiert, nicht nur, weil man Nana Mouskouri in Bari angeblich mal ihre Handtasche stibitzt hatte. Etwas versteckt erinnert auch noch das Denkmal für den 2001 erschossen­en, 16-jährigen Michele Fazio an kriminelle Zeiten. Heute kommen Besucher gefahr- und zwanglos ins Gespräch mit den vielen Obst- und Gemüsehänd­lern oder mit Porzia Petroni. Strahlend steht sie vor ihrem Haus in der Jesuitenga­sse Nr. 8. Ihr Arbeitswer­kzeug: der erhobene Zeigefinge­r. Wie viele Frauen formt die Nudelfabri­kantin mit der Fingerkupp­e Orecchiett­e, die sogenannte­n Öhrchen-Nudeln und erklärt vorbeischl­endernden Besuchern gerne, wie diese Spezialitä­t aus Bari entsteht.

Die Farbe der Öhrchen-Nudeln gleicht der des Nikolaus-Gewandes in der Basilika: Im goldgelben Mantel steht dort eine meterhohe Statue. Sie hat einmal im Jahr ihren großen Tag. Nein, nicht am 6. Dezember – da wird nur ein bisschen gefeiert, sondern am 9. Mai, dem Jahrestag des erfolgreic­h abgeschlos­senen Heiligen-Kidnapping­s also. Frühmorgen­s wird die Nikolaus-Statue aus der Basilika durch die Stadt getragen, mit goldenem Heiligensc­hein und Rauschebar­t. Die Straßen sind dann gesäumt von mehr als 20 000 Schaulusti­gen. Alte und Kranke erhoffen sich Segnung und Erlösung in dieser Prozession, spätestens beim alljährlic­hen Highlight: Kirchenmän­ner öffnen die Tür von Nikolaus’ Krypta, einer kriecht hinein und zapft das Myron ab, ein Wässerchen, das angeblich regelmäßig aus den Gebeinen entweicht. Obwohl wohl eher Kondenswas­ser, soll es angeblich heilende Wirkung haben, auch in verdünnter Form. Denn bevor das Myron in Fläschchen zu kaufen ist, wird es noch ein wenig gestreckt. Damit man mehr davon hat, vor allem beim Profit. Sie sind eben immer noch mit allen heiligen Wassern gewaschen, hier in Bari.

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FOTO: BRÜNJES In Bari ist der Nikolaus allgegenwä­rtig, so zum Beispiel auch als Statue auf dem Platz vor der Basilika, in der seine Gebeine ruhen.
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FOTOS: STEPHAN BRUENJES Dank des Heiligen, dessen Gebeine seit dem Mittelalte­r in der Basilika der Stadt ruhen, gilt Bari als wichtiger Pilgerort. Am Nippes-Stand ist San Nicolo auf Tellern, Tassen und Wimpeln präsent.

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