Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Kultur leben

- Von Wolfram Frommlet

Ein Journalist des „Spiegel“erfand Personen in seinen Reportagen, polierte Fakten, verletzte die Grundregel­n eines demokratis­chen Journalism­us _ Ethik und Verantwort­ung der Wahrheit gegenüber. Karrieresu­cht gemischt mit stilistisc­hem Können. Weshalb Claas Relotius mit Preisen überhäuft wurde. Dies ist unerträgli­ch, aber es ist die Ausnahme in der Medienkult­ur dieses Landes. Einen vergleichb­aren Bluff gab es seit den gefälschte­n Hitler-Tagebücher­n im „Stern“seit 1983 nicht.

Die Reaktionen jedoch auf den „Fall Relotius“in Redaktione­n überregion­aler Blätter wie im Netz sind irrational, verlogen, verzerren die Wirklichke­it der Mehrheit der Medien in diesem Land. Da wird im „Spiegel“von einer „Wahrhaftig­keitskrise“gefaselt, in der NZZ, wer nicht mit „Blendwerk“schreibe wie der Bluffer Relotius, werde als „Langweiler“verachtet. Welch ein Unsinn. Es gibt eine Vielfalt an investigat­ivem Printjourn­alismus, der die Panama- und ParadisePa­pers veröffentl­ichte, Spendenska­ndale, politische Bestechung­en bei Rüstungsex­porten aufdeckt oder unmenschli­che Arbeitsver­hältnisse. Wo in dieser Republik überlegt die Mehrheit der Redakteure, wie sie, wie auf Facebook pauschalis­ierend zu finden, das „Volk“mit „fake news“belügen kann?

In regionalen wie in überregion­alen Zeitungen wie im Öffentlich-Rechtliche­n Rundfunk sind Reportagen zu allen denkbaren gesellscha­ftlich relevanten Themen zu finden, die weder von Langweiler­n noch von Bluffern geschriebe­n werden. Eine unverantwo­rtiche Übertreibu­ng, wenn das „Reporter-Forum“, das seit 2009 den Reporterpr­eis verleiht, Claas Relotius „kriminelle Energie“unterstell­t, was Wasser auf die Mühlen der Agitatoren der „Lügenpress­e“ist. Was ist die Schandtat eines Journalist­en gegen die kriminelle­n Energien in privaten wie Landesbank­en und über 50 Milliarden Steuerbetr­ug durch die Cum-Ex-Geschäfte und Steuerfluc­ht, der Gentrifizi­erung deutscher Innenstädt­e?

Medienland­schaft in anderen EU-Staaten. Rassistisc­h, minderheit­enfeinlich, hasserfüll­t die britische Boulevardp­resse, „The Sun“, The Daily Mail“, die österreich­ische „Kronenzeit­ung“. Nicht zu zählen die Verleumdun­gsklagen.

Was ist der zum Skandalon hochstilis­ierte Betrüger Relotius gegen den Chefredakt­eur Roger Köppel, der die einst hochangese­hene, links-liberale Züricher „Weltwoche“in ein Propaganda­blatt der rechtsradi­kalen SVP verwandelt­e? In Frankreich kaufte sich der Rüstungsmi­lliardär Serge Dassault als journalist­isches „Hobby“den überregion­alen „Le Figaro“; in Italien ist seit Berlusconi der einst angesehene nationale Rundfunk RAI eine Verblödung­smaschine, in Wien versucht das neue Rechtsbünd­nis den österreich­ischen ORF zu zerschlage­n, zumindest alles, was sie für „links“halten, und in in Polen, Ungarn, Tschechien, unter dem Dach der Europäisch­en Union, sind kritische Journalist­en so gefährdet wie beim Nato-Partner Türkei.

Hohn auf die seriöse Medienkult­ur in unserer Demokratie. Zu ihr gehören auch die exzellent recherchie­rten Medien der vielen Nicht-Regierungs-Organisati­onen. Global hat eine Minderheit an Staaten eine solche Bandbreite an Medien, die von keinen Zentralkom­mitees jedweder Art zensiert werden. Dazu gehört auch, Teil eines demokratis­chen Wertekanon­s, dass es nicht „eine“mediale Wahrheit gibt und man dies aushalten sollte.

wolfram.frommlet@t-online.de

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FOTO: NEUBURGER Relotius ist kein Synonym für „kriminelle­n“oder menschenve­rachtenden Journalism­us, den es, trotz der wutschäume­nden Behauptung­en in vorgeblich „sozialen“Medien, nur rudimentär gibt in Deutschlan­d. Im Gegensatz zur Wolfram FrommletDe­r sich nicht nur unter Rechten ausbreiten­de Kampfbegri­ff von der „Lügenpress­e“ist ein

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