Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Die Heilige Angela, ihre drei Wunder und ihr Martyrium
Im satirischen Jahresrückblick auf 2018 im Kulturzentrum Linse in Weingarten gibt’s nicht viel zu lachen
WEINGARTEN – Für viele ist es schon lange ein alljährliches Ritual und zugleich ein gesellschaftliches Ereignis: Der satirische Jahresrückblick mit Mike Jörg. Was ist schon heute Schnee von gestern? Was wird in 20 Jahren Schnee von gestern sein und was in 50 Jahren? Das wollten am Freitag rund 180 Zuschauer im großen Saal der Linse wissen. Die Vorstellung war bereits seit Silvester ausverkauft.
Ho, Ho, Ho Chi Minh! Mit diesem Ruf kommt Mike Jörg die Stufen herab zur Linsebühne, ausstaffiert mit Parka aus dem US-Laden, Che-Guevara-Mütze samt rotem Stern und John-Lennon-Brille. „Was waren das für herrliche Zeiten“, schwärmt er und skandiert gleich noch ein paar Demo-Sprüche der 68er, wie „Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren“und „Trau keinem über 30.“Die meisten der Zuschauer können sich wohl an die Sprüche von vor 50 Jahren erinnern.
Auf der Bühne angekommen, lässt der Satiriker sich in einen Sessel fallen. „Damals hat man stundenlang demonstriert – und jetzt muss man sich nach zwei Minuten Action schon hinsetzen.“Die 68er-Requisiten hat Jörg auf einer Leiter abgelegt, an der an einem langen Faden ein Pendel schwingt. Er stupst das Pendel an, beobachtet, wie es mal hierhin und mal dorthin ausschlägt, und sinniert, ob das Jahr 2018 vielleicht eine Gegenbewegung zum Jahr 1968 ist?
Damals hieß es: „Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.“Von Kampf kann 2018 schon lange nicht mehr die Rede sein, meint Jörg: „13 Jahre hat Merkel uns im politischen Wachkoma gehalten“. Nach der Ankündigung der Bundeskanzlerin, sich aus der Politik zurückzuziehen, hat der Satiriker beobachtet, wie sie zur Heiligen Angela wurde. Drei Wunder für das Verfahren der Heiligsprechung nachzuweisen, sei kein Problem gewesen.
Wunder Nummer eins auf Jörgs Liste: Der Dieselskandal hat drei Jahre lang zu keiner einzigen politischen Maßnahme geführt. Wunder Nummer zwei: Seit sechs Jahren hat die Bundesregierung kein einziges ihrer Klimaziele erreicht. Wunder Nummer drei: Trotz steigender Steuereinnahmen leben fast 20 Prozent der Kinder in Deutschland in Armut. „Da kann man sich nur wundern.“Es brauche zur Heiligsprechung noch ein Martyrium. An dieser Stelle genügte ihm das Stichwort Horst Seehofer.
Von der Bundesbahn und ihrem Verhältnis zur Pünktlichkeit geht es über das Bankenbeben und die AfD bis zur Frage, ob Ministerpräsident Kretschmann die Männerhorden, die er in die Pampa schicken will, in seinem Heimatort Laiz haben wolle – das liege doch auch in der Pampa. Die neue CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer inspiriert den Satiriker zu Wortspielen rund um einzuschlagende Krampen und Karren, die aus dem Dreck gezogen werden müssen.
Anders als in früheren Jahren, in denen Jörg seine vorbereiteten ZitateZettel in einer Mülltonne versenkte, hat er jetzt einen Aktenvernichter neben seinem Sessel stehen. Er zitiert den US-Präsidenten Donald Trump, der meint, mit Trump an der Spitze wäre der Vietnamkrieg anders verlaufen. Er liest frauenverachtende Sprüche des brasilianischen Staatspräsidenten Jair Messias Bolsonaro und des italienischen Innenministers Matteo Salvini. Solche Äußerungen sind nach Erkenntnissen des Satirikers der Grund, warum die Leute diese Politiker wählen.
Was Trumps nachweisbare und wiederholte Lügen angeht, sagt Jörg: „Trump sieht die Wirklichkeit, aber er erklärt sie anders.“Die Waldbrände in Kalifornien zum Beispiel hätten nach Trumps Worten vermieden werden können, wenn die Leute nur ordentlich Kehrwoche im Wald gemacht hätten. Fazit des Satirikers: Anders als bei den 68ern geht es heute nicht mehr darum, die Wirklichkeit zu verändern - sondern die Geschichten über die Wirklichkeit.
„Der Bürger ist schon immer der Blödmann, zum Beispiel in der Finanzkrise, da hat der Mike Jörg recht“, sagt eine Seniorin in der Pause. Und die 68er würden jetzt im Sessel sitzen und wollten nichts mehr wissen vom Kampf gegen den Kapitalismus. „Aber früher gab‘s beim Jahresrückblick auch mehr witzige Wortspiele“, ergänzt ihre Gesprächspartnerin. „Das mit dem Lachen funktioniert beim Mike heute nicht mehr so.“
Wer sich einen vergnüglichen Abend erhofft hatte, wurde in der Tat enttäuscht. Das Jahr 2018 war aus Jörgs Sicht zwar reine Satire, hat ihm aber nicht viel Anlass zum Lachen gegeben. Lang anhaltenden Applaus bekommt er für seine Vorstellung trotzdem. Die Plakate, die er als Zugabe verteilt und auf Wunsch signiert, sind sehr begehrt. Hinterher drängeln sich noch viele Zuschauer vor der Bühne, um den Künstler persönlich und mit Handschlag zu begrüßen.