Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Ultrafeine Gefahr
Karlsruher Forscherteam weist nach: Moderne Kohlekraftwerke erzeugen mehr Ultrafeinstaub als der Straßenverkehr
KARLSRUHE - Schon rein optisch macht der Flugapparat was her. Er ähnelt einem Gleitschirmflieger – allerdings ist er vollgepackt mit allerlei Messapparaturen. Fast drei Jahre lang sind der Forscher Wolfgang Junkermann und sein Team kreuz und quer über die Republik geflogen, sind dabei auf bis in Höhen von 3000 Metern aufgestiegen. „Da ist die Obergrenze des Luftraums, in dem man nach Sichtflug fliegen kann“, erzählt der Umweltphysiker. Seine Erkenntnisse sind verblüffend: hohe Konzentrationen von Feinstaubpartikeln, wie man sie weit entfernt von menschlichen Siedlungen nicht vermutet hätte.
Feinstaub: Das ist nicht erst seit den Dieselfahrverboten in Stuttgart oder Hamburg ein viel diskutiertes Thema. Ultrafeine Partikel gelten als gesundheitsschädlich – aber auch als klimarelevant. In urbanen Gebieten gilt – oder muss es heißen: galt? – der Straßenverkehr als Hauptursache für die winzigen Teilchen. Junkermann und seine Kollegen vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) haben jetzt in einer Langzeitmesskampagne eine weitere Quelle identifiziert, die besonders außerhalb von Städten von besonderer Relevanz ist: moderne Kohlekraftwerke.
Weltweit stärkste Einzelquellen
Diese emittieren den erfassten Messwerten zufolge mehr Ultrafeinstaub als der Straßenverkehr und haben außerdem Einfluss auf den Niedergang von Starkregen. „Wir konnten zeigen, dass fossile Kraftwerke inzwischen zu den weltweit stärksten Einzelquellen für ultrafeine Partikel geworden sind“, sagt Junkermann, Forscher am KIT-Institut für Meteorologie und Klimaforschung. Mehr als 15 Jahre lang absolvierten Junkermann und sein Team Messflüge auf einem vorab festgelegten Flugplan. Die Klimaforscher hatten dafür das nach eigenen Angaben „weltweit kleinste bemannte Forschungsflugzeug“entwickelt. Das fliegende Labor ist mit hochsensiblen Instrumenten und Sensoren ausgestattet, die Staubpartikel, Spurengase, Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Wind und Energiebilanzen messen.
Insbesondere fossil befeuerte Kraftwerke, Schmelzhütten und Raffinerien haben Junkermann und sein Team als wichtige anthropogene, also von Menschenhand verursachte, Quellen identifiziert. Die meisten Exkursionen mit dem Kleinflugzeug fanden zwischen 2012 und 2014 statt. Weitere Daten stammen aus früheren Flügen in Finnland, England, Frankreich und Italien. Diese Daten glichen Junkermann und seine Kollegen mit meteorologischen Beobachtungen sowie Ausbreitungs- und Transportmodellen ab.
Für den Forscher ist erwiesen: Es sind besonders die Kohlekraftwerke und Raffinerien, die verantwortlich für den Feinstaub sind. In Bezug auf ultrafeine Partikel zugeordnet werden konnten die zwischen vier und sechs Jahre zurückliegenden Flüge quer durch Deutschland erst im vergangenen Jahr. In früheren Publikationen waren diese noch nicht den Kraftwerken zugeschrieben worden, da der Fokus der Forscher damals auf atmosphärischem Strahlungstransfer und Wolkenbildung lag. Im Nachhinein ergebe aber auch die Analyse der alten Daten mithilfe mathematischer Berechnungen „jeweils die Zuordnung zu einem bestimmten Kohlekraftwerk oder zu einer Raffinerie“. Für Junkermann gibt es da keinen Zweifel.
Kilometerlange Abluftfahne
Erst seit Ende 2016 liegt eine Publikation vor, die den Vergleichsmaßstab bildet – und mit deren Hilfe die anthropogenen Partikelemissionen weltweit bestimmt werden können. Für die hochgerechneten globalen Emissionen bräuchte es etwa 2150 Kohlekraftwerke. So hat Junkermanns Team, dessen Flugzeug an der KIT-Außenstelle „Campus Alpin“in Garmisch-Partenkirchen beheimatet ist, bei dem Kohlekraftwerk Boxberg in der Lausitz (Sachsen) in der Abluftfahne in 20 Kilometern Entfernung noch bis zu 85 000 Partikel pro Kubikzentimeter gemessen. Das Kraftwerk Boxberg war zu DDR-Zeiten das einst größte Braunkohlekraftwerk im Osten.
An viel befahrenen Straßen in Stuttgart beispielsweise finden sich Angaben der Deutschen Umwelthilfe zufolge „zwischen 25 000 und 30 000 Ultrafeinstaubpartikel pro Kubikzentimeter Luft“. Etwa 20 000 Partikel seien „in einer Stadt normal“, heißt es. Die ultrafeinen Partikel sind dabei etwa hundertmal kleiner als die am Neckartor gemessenen Feinstaubpartikel (PM10), aber mutmaßlich um einiges gefährlicher. Doch für den Ultrafeinstaub gibt es bisher keine Verordnungen, geschweige denn Grenzwerte. Erfassbar wären diese mit dem Partikelspektrometer – aber der wird selten eingesetzt.
Das KIT-Forscherteam hat auch vergleichbare Kohlemeiler in BadenWürttemberg überflogen – mit ähnlichen Ergebnissen wie in Sachsen. Die zwei wichtigsten Kohlestandorte sind die Industriehäfen von Karlsruhe und Mannheim mit insgesamt fünf Kraftwerksmeilern, die der Leistung nach den Kernkraftwerken in Philippsburg und Neckarwestheim vergleichbar sind. Die moderne Abgasreinigung schaffe „optimale Bedingungen für die Partikelneubildung“, erklärt Junkermann. In den heutigen Kohlekraftwerken würde der Feinstaub in Filteranlagen zu „ultrafeinen Stäuben“. Nach der Emission durch die Abluftkamine in 200 bis 300 Metern Höhe können die winzigen Teilchen mehrere Hundert Kilometer zurücklegen, abhängig von den Wetterverhältnissen und Klimabedingungen in der Atmosphäre. „Mit Einfluss auch auf die Regenbildung“, sagt der Umweltphysiker.
Während in urbanen Gebieten der Straßenverkehr als Hauptursache für die winzigen Teilchen in der Atmosphäre gilt, sind es moderne Kohlekraftwerke, die in ländlichen Gebieten den Hauptteil der ultrafeinen Partikel verursachen. Obwohl derartige Partikel einen Durchmesser von weniger als 100 Nanometern haben, nehmen sie dabei Einfluss auf Umweltprozesse: „Sie bieten Oberflächen für chemische Reaktionen in der Atmosphäre oder können als Kondensationskerne die Eigenschaften von Wolken und Niederschlag beeinflussen“, sagt Junkermann. Dadurch werde die räumliche und zeitliche Verteilung sowie die Intensität von Niederschlägen beeinflusst. Für den Forscher steht fest, dass fossile Kraftwerke deswegen auch für „extreme Wetterereignisse“verantwortlich sein könnten.