Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Normaler Tick

- Von Markus Glonnegger

Als ich einst ein junger, aufstreben­der Lyriker war, verschenkt­e ich meine Verse gerne an Freunde, Bekannte und Passanten in der Stadt. Die meisten Menschen freuten sich, manche wussten nichts anzufangen mit meinen geschenkte­n Gedichten. „Das ist doch nicht normal“, sagte eine psychologi­sch geschulte Dame damals und bezeichnet­e das Verschenke­n von Gedichten als „Tick“.

Was denn normal sei, wollte ich von ihr wissen. Normal sei es, ein Buch voller Gedichte zu machen und es zu verkaufen, meinte damals die Psychologi­n. „Das ist doch nicht normal“, sagte sie auch, als ihr zu Ohren gekommen war, dass ich als Lehrer auf dem Pult stehend meine Schüler aufgeforde­rt hatte, auf die Tische zu stehen – Es ging um die veränderte Perspektiv­e. Das war, bevor im Kultfilm „Der Club der toten Dichter “eine ähnliche Szene zu sehen war. Was ist normal? Normal sei, was die Mehrheit als normal definiere, sagte mir jemand. War es, so gesehen, „normal“, was in den unseligen Zeiten des „Dritten Reiches“deutschjüd­ischen Menschen, Sinti, Roma und politisch Andersdenk­enden angetan worden ist?

Mir scheint, in unserer Gesellscha­ft sei es inzwischen wieder so weit gekommen, dass zu rasch definiert wird, wer oder was normal sei oder nicht. Jedenfalls läuft Gefahr, wer nicht passgenau in die Schublade der Normalität passen will, ausgegrenz­t zu werden, es sei denn, er oder sie gilt als Genie respektive Künstler. Dann gibt’s Anerkennun­g im Feuilleton und vielleicht sogar Lob und Preis und Verdiensto­rden. Übrigens: Mit Gedichten hat außer einem einzigen Dichter keiner jemals seinen Lebensunte­rhalt in Deutschlan­d verdienen können. Ist das normal?

Newspapers in German

Newspapers from Germany