Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Normaler Tick
Als ich einst ein junger, aufstrebender Lyriker war, verschenkte ich meine Verse gerne an Freunde, Bekannte und Passanten in der Stadt. Die meisten Menschen freuten sich, manche wussten nichts anzufangen mit meinen geschenkten Gedichten. „Das ist doch nicht normal“, sagte eine psychologisch geschulte Dame damals und bezeichnete das Verschenken von Gedichten als „Tick“.
Was denn normal sei, wollte ich von ihr wissen. Normal sei es, ein Buch voller Gedichte zu machen und es zu verkaufen, meinte damals die Psychologin. „Das ist doch nicht normal“, sagte sie auch, als ihr zu Ohren gekommen war, dass ich als Lehrer auf dem Pult stehend meine Schüler aufgefordert hatte, auf die Tische zu stehen – Es ging um die veränderte Perspektive. Das war, bevor im Kultfilm „Der Club der toten Dichter “eine ähnliche Szene zu sehen war. Was ist normal? Normal sei, was die Mehrheit als normal definiere, sagte mir jemand. War es, so gesehen, „normal“, was in den unseligen Zeiten des „Dritten Reiches“deutschjüdischen Menschen, Sinti, Roma und politisch Andersdenkenden angetan worden ist?
Mir scheint, in unserer Gesellschaft sei es inzwischen wieder so weit gekommen, dass zu rasch definiert wird, wer oder was normal sei oder nicht. Jedenfalls läuft Gefahr, wer nicht passgenau in die Schublade der Normalität passen will, ausgegrenzt zu werden, es sei denn, er oder sie gilt als Genie respektive Künstler. Dann gibt’s Anerkennung im Feuilleton und vielleicht sogar Lob und Preis und Verdienstorden. Übrigens: Mit Gedichten hat außer einem einzigen Dichter keiner jemals seinen Lebensunterhalt in Deutschland verdienen können. Ist das normal?