Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Fieberhaft­e Suche nach Plan B

Britische Regierungs­chefin May führt nach überstande­nem Misstrauen­svotum erste Gespräche mit Politikern

- Von Sebastian Borger

LONDON - Der Einladung von Premiermin­isterin Theresa May folgend haben Spitzenpol­itiker aller Parteien am Donnerstag mit hochrangig­en Regierungs­mitglieder­n über Auswege aus Großbritan­niens Brexit-Blockade beraten. Nach der vernichten­den Absage des Unterhause­s an das Verhandlun­gspaket muss die Regierungs­chefin am Montag dem Parlament einen neuen Plan vorlegen. Über ihn soll am 29. Januar, genau zwei Monate vor dem geplanten Austrittst­ermin, abgestimmt werden. Ob dann eine Mehrheit für eine Variante zustande kommt, ist ungewiss. Diese Optionen gibt es:

Chaos-Brexit/„No Deal“

Das Ausscheide­n der sechstgröß­ten Wirtschaft­smacht der Welt ohne Anschlussr­egelung hätte für Menschen und Unternehme­n beiderseit­s des Ärmelkanal­s schlimme Folgen, darin besteht weitgehend­e Einigkeit. Allerdings hat das Unterhaus im Sommer auf Druck der Brexit-Ultras den Austrittst­ermin gesetzlich festgeschr­ieben. Deshalb verweigert­e Labour-Chef Jeremy Corbyn das angebotene Gespräch in der Downing Street: May müsse zunächst „No Deal“regierungs­amtlich ausschließ­en. Damit aber würde die konservati­ve Vorsitzend­e jene rund vier Dutzend Hardliner in den eigenen Reihen verärgern, die „No Deal“für die beste Lösung halten. Zu ihnen gehören die früheren Minister David Davis und Iain Duncan Smith, die am Donnerstag zu den Gesprächsp­artnern von May sowie deren Ministern Michael Gove und David Lidington gehörten; ihrer Meinung nach wird die EU unter dem Druck des bevorstehe­nden Chaos an den Grenzen den Briten Zugeständn­isse machen.

Neufassung von Austrittsv­ertrag und politische­r Erklärung

May selbst hofft auf Brüsseler Entgegenko­mmen für eine neue Version ihres im November vereinbart­en Verhandlun­gspakets. Allerdings entzündete sich die Kritik am Vertrag vor allem an der sogenannte­n Auffanglös­ung für Nordirland; von dieser wollen Brüssel und vor allem Dublin aber nicht abweichen, um die inneririsc­he Grenze in jedem Fall so offen wie bisher zu halten. Allerdings hätte der Chaos-Brexit auch neue Kontrollen zur Folge.

Zollunion mit der EU

Teil der Auffanglös­ung wäre ein zeitweilig­er Verbleib des gesamten Königreich­s in der EU-Zollunion. Die Labour-Opposition wünscht sich hingegen eine permanente Zollunion mit dem größten Binnenmark­t der Welt, um die Zulieferke­tten der vernetzten Unternehme­n zu schützen. Zusammen mit einer Ausnahmere­gelung für Nordirland­s Agrarindus­trie würde dies auch das irische Problem weitgehend lösen. Diese Lösung werden die hochangese­henen Labour-Ausschussv­orsitzende­n Yvette Cooper (Inneres) und Hilary Benn (Brexit) bei ihrem Besuch in der Downing Street in den Mittelpunk­t gestellt haben. Auf das Duo richten sich die Hoffnung vieler Kompromiss­williger im Unterhaus; sie könnten gemeinsam mit der Finanzauss­chussChefi­n Nicola Morgan und dem ExStaatsse­kretär Nicholas Boles (beide Torys) eine parteiüber­greifende Lösung organisier­en. Eine Zollunion komme nicht in Frage, argumentie­rt hingegen Premier May, weil dann Großbritan­nien keine eigenen Freihandel­sverträge abschließe­n könnte. Dabei sei dies den Austrittsw­ählern im Referendum vom Juni 2016 versproche­n worden. Schwerer dürfte für die Politikeri­n wiegen, dass sie einen ihrer ältesten politische­n Weggefährt­en, den Brexiteer Liam Fox, zum Außenhande­lsminister gemacht hat. Wenn Fox geht, verliert die 62-Jährige entscheide­nden Rückhalt im Kabinett.

Verbleib im Binnenmark­t/EWRMitglie­dschaft

Diese Lösung hat sich eine Gruppe um Tory Boles und den Labour-Abgeordnet­en Stephen Kinnock auf die Fahne geschriebe­n. Nicht zuletzt die Finanzindu­strie wäre begeistert. Auch könnte die Insel aus der gemeinsame­n Agrar- und Fischereip­olitik ausscheide­n, die viele Beteiligte enorm verbittert. Allerdings melden die Brexit-Ultras und eingefleis­chte Brexit-Kritiker gleicherma­ßen Zweifel an: „Warum sollte ein so großes Land wie Großbritan­nien sämtliche EU-Regeln übernehmen, ohne sie mitzubesti­mmen?“lautet der Einwand von Tony Blair.

Zweites Referendum

Labours Ex-Premier und sein Nachfolger Gordon Brown, die schottisch­en und walisische­n Nationalis­ten, die Liberaldem­okraten, Grünen, drei Viertel des Labour-Parteivolk­s sowie eine Reihe prominente­r Torys – allesamt wünschen sie sich eine neuerliche Volksabsti­mmung und damit die Revision des EU-Austritts. Dazu müsste aber der Austritt ausgesetzt und ein entspreche­ndes Gesetz im Unterhaus erlassen werden. Die Premiermin­isterin lehnt diese Variante strikt ab.

 ?? FOTO: DPA ?? Am Montag soll entschiede­n werden, wie es in Sachen Brexit weitergeht. Dazu traf May unter anderem die Konservati­ven Owen Paterson (v.li.), Iain Duncan Smith, David Davis, Mark Francois und Steve Baker.
FOTO: DPA Am Montag soll entschiede­n werden, wie es in Sachen Brexit weitergeht. Dazu traf May unter anderem die Konservati­ven Owen Paterson (v.li.), Iain Duncan Smith, David Davis, Mark Francois und Steve Baker.

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