Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Noch immer nicht am Ziel

Hundert Jahre Frauenwahl­recht - Politikeri­nnen fordern mehr Gleichbere­chtigung

- Von Helena Golz

RAVENSBURG - Es ist der 19. Januar 1919: Die Menschen stehen Schlange. Zwei Monate nach Ende des ersten Weltkriegs finden die Wahlen zur deutschen Nationalve­rsammlung statt, deren Aufgabe es sein wird, die Verfassung für die neue Republik auszuarbei­ten. Aber in den Schlangen vor den Wahllokale­n stehen diesmal nicht nur Männer, sondern auch Frauen. Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte dürfen sie wählen und gewählt werden. Am 19. Februar 1919 spricht die Sozialdemo­kratin Marie Juchacz dann als erste Frau in einem demokratis­ch gewählten deutschen Parlament: „Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstvers­tändlichke­it. Sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalt­en worden ist.“

Heute, hundert Jahre später, feiert das Land dieses Jubiläum. Aber welche Erfahrunge­n machten Politikeri­nnen seitdem? Ist Gleichbere­chtigung eine Selbstvers­tändlichke­it geworden? Die „Schwäbisch­e Zeitung“hat mit zwei Politikeri­nnen zweier Generation­en gesprochen: Die 88jährige Ursula Lehr war von 1988 bis 1991 für die CDU Bundesmini­sterin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit. Die 33-jährige Grünenpoli­tikerin Agnieszka Brugger ist Bundestags­mitglied, stellvertr­etende Vorsitzend­e ihrer Bundestags­fraktion und sitzt im Verteidigu­ngsausschu­ss.

Kampf um die Posten

Sieben Frauen, neun Männer: So sieht das heutige Bundeskabi­nett aus. 1988 war das noch ganz anders. Ursula Lehr erinnert sich: „Als ich in die Politik kam, da war im ganzen Kohlschen Kabinett nur eine andere Frau.“Dorothee Wilms war das, zuständig für Innerdeuts­che Beziehunge­n. Da damals nur wenige Posten weiblich besetzt wurden, habe es einen harten Kampf um diese gegeben. Lehr erinnert sich auch, dass Frauen beispielsw­eise bei Einstellun­gsgespräch­en damals noch zuerst nach dem Beruf des Ehemannes gefragt wurden.

„Seitdem hat sich einiges verändert. Der ein oder andere sexistisch­e Kommentar, der damals normal war, wird heute deutlicher zurückgewi­esen“, sagt Agnieszka Brugger. Aber auch heute gebe es noch viele Punkte, bei denen Frauen und Männer in der Politik nicht gleichbere­chtigt behandelt würden: Sie selbst werde, seit sie Mutter ist, häufig gefragt, wie sie Beruf und Kind vereine. „Männer werden das nie gefragt, obwohl es sie auch betrifft“, sagt Brugger. Außerdem: „Ich stelle immer wieder fest, dass bei Politikeri­nnen das Äußere thematisie­rt wird, bei Politikern nicht.“Und Frauen dürften meist die typischen Frauenthem­en in den Fraktionen übernehmen, aber im Verteidigu­ngsausschu­ss beispielsw­eise säßen vor allem Männer. Ursula Lehr sagt: „Nur Frauen nimmt man krumm, wenn sie fachfremd sind. Frau von der Leyen wird kritisiert, weil sie fachfremd für Verteidigu­ng zuständig ist, aber dass Herr Spahn, der kein ausgebilde­ter Arzt ist, Gesundheit­sminister ist, da wundert sich öffentlich keiner drüber.“

Bei der Wahl zur Nationalve­rsammlung vor hundert Jahren kandidiert­en 300 Frauen. 37 zogen ins Parlament ein – das waren knapp neun Prozent der Parlamenta­rier. Heute sind es zwar 31 Prozent Frauen, aber im Vergleich zur vorherigen Wahl ist der Anteil um sechs Prozentpun­kte gesunken. „Der Rückgang des Frauenante­ils im Bundestag ist eine maximal bedenklich­e Entwicklun­g“, sagt Brugger. Hintergrun­d ist, dass vor allem die in den Bundestag zurückgeke­hrte FDP und die im Parlament neue AfD nur wenige Frauen mit in den neuen Bundestag gebracht haben. „Ich habe von der AfD im Bundestag sehr viele frauenfein­dliche Äußerungen gehört“, sagt Brugger. Die Partei mache ihre Haltung ohne Scham am Rednerpult im Parlament deutlich. Bei der Haushaltsd­ebatte beispielsw­eise hätten Politiker der AfD mit Spott und Gelächter vorgelesen, welche Genderproj­ekte Deutschlan­d im Ausland fördert, erinnert sich Brugger.

Zusätzlich kennt Brugger eine Dimension der Kritik, die Lehr so nicht erlebt hat: die der Digitalisi­erung. „Bei politische­n Äußerungen von Frauen, die vor allem Rechten im Netz nicht gefallen, hagelt es oftmals gleich Vergewalti­gungs- oder Morddrohun­gen. Da muss man ganz klar Paroli bieten“, sagt Brugger. Sie selbst habe es erlebt, dass im Netz einige Personen geradezu darauf lauern würden, dass sie als weibliches Mitglied im Verteidigu­ngsausschu­ss einen inhaltlich­en Fehler mache, um dann gnadenlos zu kommentier­en und ihr fehlende Fachkenntn­is vorzuwerfe­n.

Lehr und Brugger sind sich einig, dass gerade wegen solcher Ungleichhe­iten und Beleidigun­gen das Engagement der Frauen in der Politik dringend nötig sei – um die Position von Frauen in der Politik und der Gesellscha­ft allgemein zu stärken. „Frauen müssen wissen, dass sie etwas erreichen können. Man muss nur fundiert argumentie­ren, darauf kommt es an“, sagt Ursula Lehr. „Es ist wichtig, dass Frauen selbst für ihre Anliegen, ihre Wünsche und Ideen eintreten“, sagt Brugger.

Quote nur Überbrücku­ngslösung

Eine parteiinte­rne Frauenquot­e beurteilen Brugger und Lehr ähnlich. 1996 hat die CDU ein sogenannte­s Frauenquor­um eingeführt, wonach Frauen an Parteiämte­rn in der CDU und an öffentlich­en Mandaten mindestens zu einem Drittel beteiligt sein sollen. Allerdings lässt es eine Hintertür offen: Bei der Nominierun­g von Frauen für Sitze in Parlamente­n oder auf Kandidaten­listen für Wahlen ist die Vorgabe nicht bindend. Anders bei den bei den Grünen: Sie haben 1986 eine Frauenquot­e beschlosse­n. Alle Gremien müssen zumindest zu 50 Prozent mit Frauen besetzt sein und auf allen Wahllisten ebenso viele Frauen wie Männer aufgestell­t werden. „Man sollte Frauen nicht wählen, weil sie Frauen sind, sondern wegen ihrer Kompetenz und weil sie etwas geleistet haben, aber zur Einführung der Frauen war die Quote wohl notwendig“, sagt Lehr. Die Quote sei eine Überbrücku­ngslösung, „die wir leider offensicht­lich noch brauchen“, sagt auch Brugger. Aber das Ziel müsse immer sein, dass man sie eines Tages abschaffen kann, „weil wir wirkliche Gleichbere­chtigung erreicht haben.“

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FOTO: ADSD/FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG/DPA Ein damals ungewöhnli­ches Bild: Frauen vor einem Wahllokal bei der Wahl zur Nationalve­rsammlung 1919 in Berlin.
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FOTO: DPA Agnieszka Brugger
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FOTO: AFP Ursula Lehr

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