Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
„Die Leistung der Verfassungsväter ist beeindruckend“
Historiker Jörn Leonhard erklärt, warum die Weimarer Staatsordnung viel besser ist als ihr heutiger Ruf
RAVENSBURG - Auf den Tag genau vor 100 Jahren trat in Weimar die verfassunggebende Nationalversammlung zusammen. Wie einschneidend war dieser wichtige Schritt zur Verfassung der ersten deutschen Republik? Und warum fasziniert die Weimarer Zeit bis heute so viele Menschen? Sebastian Heinrich hat darüber mit Historiker Jörn Leonhard gesprochen.
Herr Leonhard, heute sehen wir im ersten Treffen der Nationalversammlung eine Zeitenwende. Haben die Deutschen das damals auch so erlebt?
Ja und Nein. Das ist in der deutschen Öffentlichkeit schon bewusst wahrgenommen worden. Die Versammlung war im Januar 1919 demokratisch gewählt worden, und die Menschen wussten genau, welchen Einschnitt das bedeutete. Aber viele Zeitgenossen hatten im Januar und Februar 1919 auch ganz andere, persönliche Probleme. Es gab eine Republik, aber niemand wusste, wie stabil sie ist. Viele Menschen fürchteten einen Bürgerkrieg. Hunderttausende Soldaten kehrten von der Front zurück. Wie ein Damoklesschwert hing über all dem die Frage, was auf der Pariser Friedenskonferenz mit Deutschland passieren würde – also zu welchen Bedingungen Deutschland Frieden schließen musste. In vielen Städten blieb die Versorgungskrise akut, und für viele Menschen war die Frage, wie sie ihre Familie die nächste Woche ernähren oder ob der Bruder oder der Ehemann lebendig von der Front zuDNA rückkehren würde, viel naheliegender als die Details der neuen Verfassung.
Ein knappes halbes Jahr verging zwischen dem Zusammentreten der Nationalversammlung und der Annahme der Verfassung. In diesen Monaten debattierten die Abgeordneten über brisante Themen, die bis heute aktuell wirken: über Gleichberechtigung der Frau, Todesstrafe, Volksentscheide auf nationaler Ebene. Was ist von diesen Debatten geblieben?
Es war zunächst etwas Neues, dass so offen und kontrovers diskutiert wurde – und man gleichzeitig versuchte, aus diesen Debatten eine stabile politische Ordnung zu schaffen. Das ist eine wirklich neue Qualität im Vergleich zum Kaiserreich. Viele Debatten zeigen ein hohes intellektuelles Niveau, und die behandelten Themen von damals gehören zur moderner Gesellschaften – denken Sie nur an den Stellenwert der Grundrechte und des Sozialstaats. Man muss diese Leistung der Verfassunggebung umso mehr würdigen, weil die innere und äußere Zukunft Deutschlands denkbar unsicher schien. Und man darf sie nicht allein aus der Perspektive von 1933 und der Machtergreifung der Nationalsozialisten denken, so als sei es eine Art von „politischem Geburtsfehler“gewesen. Die Leistung dieser Verfassungsväter ist bei allen Problemen der Verfassung sehr beeindruckend, bis heute.
Die Nationalversammlung hat am Ende die Weimarer Verfassung angenommen. Wie fortschrittlich war diese Verfassung aus heutiger Sicht eigentlich?
Wir dürfen die Weimarer Verfassung von 1933 nicht an dem messen, was wir uns im Blick auf 1933 und aus heutiger Sicht alles von ihr gewünscht hätten. Sonst sehen wir vor allem Defizite und kommen auf die schiefe Bahn einer einseitigen Geschichte des Versagens. Zu dieser Negativgeschichte zählen dann immer die zu starke Position des Reichspräsidenten, die fehlende Sperrklausel für den Reichstag und so weiter. Alle diese Defizite verdichten sich in dieser Interpretation und machen den Untergang der Republik scheinbar alternativlos. Ich plädiere für eine andere Sicht: Wir müssen die Verfassung sehr stark aus der Geschichte des Kaiserreichs, des Ersten Weltkriegs und der Revolution vom November 1918 heraus verstehen. Und aus diesem Blickwinkel sieht man nicht nur Belastungen, sondern auch enorme Errungenschaften: das Ringen um die Gewaltenteilung, durch die die Macht des Reichspräsidenten wie auch des Parlaments eingeschränkt sind; die Verankerung der Grundrechte, die Betonung des Sozialstaatsprinzips, die mit der offiziellen Anerkennung der Gewerkschaften einherging. Durch die Verfassung erhielt die demokratische Republik ein Gehäuse, das Vertrauen stiften sollte. Diese Verfassung setzte ganz andere Akzente als das Kaiserreich bis 1918. Und es ist kein Zufall, dass man 30 Jahre später, bei der Arbeit am Grundgesetz, an viele Akzente anknüpfen konnte.
Mit Blick auf die Entwicklungen von heute, auf politische und gesellschaftliche Umbrüche, sprechen viele Beobachter von „Weimarer Verhältnissen“. Was halten Sie von solchen Vergleichen?
Ich plädiere für einen nüchternen Blick. Ja, es gibt Aspekte, die uns verwandt vorkommen: Es herrscht heute wie damals diese subjektive Verunsicherung, ein Gefühl, dass Dinge in Bewegung geraten, die lange Zeit festgezurrt schienen. Aber es fallen eben auch die vielen Unterschiede auf. Wir haben in Deutschland keine fundamentale Wirtschaftskrise wie am Ende der 1920er-Jahre. Selbst aus der Krise von 2008 ist Deutschland eher glimpflich herausgekommen. Wir haben keine soziale Verelendung weiter Teile der Gesellschaft. Ja, wir erleben dramatische Veränderung im Parteienspektrum – aber die Entstehung einer rechtsnationalen Partei ist kein deutscher „Sonderweg“, sondern vollzieht sich auch anderswo. Wir haben heute, anders als damals, keine extremistischen Parteien, die die Verfassung so offen ablehnen, die paramilitäre Verbände bilden und in freien Wahlen über 50 Prozent der Stimmen erreichen. Wir haben keine Straßenschlachten mit zahlreichen Toten. Wir haben, anders als damals, auch nicht die langfristigen Belastungen aus einem Friedensvertrag – und keine politische Elite, die sich von der Verfassung verabschiedet. Ich würde dafür plädieren, nicht jeden krisenhaften Wandel und jede Verunsicherung gleich mit „Weimarer Verhältnissen“gleichzusetzen. Wer sich in diesem Sinne eher für die Unterschiede interessiert, kann aus der Geschichte viel für die Gegenwart ableiten – und mehr erkennen.