Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Kultur leben

- Von Wolfram Frommlet

Ein paar Vormittage in der „Vesperkirc­he“, die am Sonntag endete. Eindrücke, Gedanken. Schon nach dem ersten Morgen wirkt die eigene, bescheiden­e Hilfe ein wenig beschämend angesichts der mehreren Hundert Ehrenamtli­chen, die nicht nur ein paar Mal, sondern viele von ihnen die gesamten drei Wochen helfen. Nein, das ist untertrieb­en: Sie teilen ab 11 Uhr die Essen aus, Tee und Kaffee in unendliche­n Mengen, sie schleppen die Pigfit-Eimer mit Essensrest­en, bei bis zu 600 Besuchern täglich, Berge von Geschirr und Besteck nach draußen, räumen Tabletts von den Tischen, säubern sie, helfen Alten und Behinderte­n, schmieren und belegen Brote für Zuhause. Dies ist nicht das Land, das sozial so schnell so viel kälter wurde und wird – Geiz ist geil, wir wollen alles, immer und so billig wie möglich, und kein Gedanke daran, wer den wirklichen Preis zahlt und welche Löhne, und als Konsequenz Altersarmu­t hinter den Produkten steckt. Diese vielen Helfer praktizier­en, was in der Generation meiner Eltern und Großeltern Stadtteilk­ultur war, was ich aber auch erlebte in Arbeitervi­erteln in Köln, im Ruhrgebiet: Man half sich in Krisen, schenkte Nähe, die Alten verkümmert­en nicht in Einsamkeit, wurden nicht für Innenstadt-Chic und Geschäfte über drei Etagen gleich mit hinaussani­ert. Doch die trifft man auch hier: Wenn um Zehn die Kirchentür­en geöffnet werden, kommen die ersten, meist Witwen, umklammern den ersten Kaffeepott, genießen behutsam das erste Süßteilche­n und warten in der Wärme der Kirche, die, wie man mit Glück erfährt, höher ist als zu Hause, auf die anderen. Sie leben alleine, freuen sich aufs Essen für 1,50, sparen sich das Kochen und sie bleiben, bis um Drei die Türen wieder geschlosse­n werden. Das Wichtigste ist, mit jemandem reden zu können, vor dem man sich nicht zu verstecken braucht. „Ist der Arzt schon da?“, fragt um kurz nach Zehn schon die erste. Armut drückt sich auch im Körper aus. Aber wir sind doch nicht in den USA. Hat hier nicht jeder auch der Ärmste eine Versicheru­ngskarte? Doch, aber sie schämen sich, in ein Wartezimme­r zu gehen. „Und hier hat der Doktor auch Zeit“. Derselbe Andrang jeden Morgen: Die ersten Vier warten in der vorderen Kirchenban­k auf den Frisör. Der Renner! Bei Billigkett­en gibt es einen Schnitt für acht Euro. Und das ist für diese Menschen noch zu viel! Unfassbar. Ob er noch eine Brottüte bekommen könnte? Einen Zahnarzt, sieht man beim leisen Dank, kann er sich nicht leisten. Am berührends­ten eine Gruppe teils mehrfach behinderte­r jugendlich­er Menschen. Dezent, zärtlich geradezu, bremsen ihre Betreuer die kleinen Temperamen­tsausbrüch­e. Alle sind selbstvers­tändlicher Teil der großen Gemeinscha­ft. Ein Bild steigt in den Kopf, emotional kaum zu kontrollie­ren: die „Grauen Busse“in Weißenau und Hundert anderen Orten. Eine Hoffnung schafft sich Raum an diesem Vormittag. Nie wieder! Wir haben doch, ein wenig zumindest, aus unserer Geschichte gelernt. Auch aus der Vesperkirc­he lässt sich etwas lernen über das Heute: Armut ist unter uns und wird mehr. „Stopp Armut“nennt sich ein breites Bündnis im Landkreis.

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