Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Kultur leben
Ein paar Vormittage in der „Vesperkirche“, die am Sonntag endete. Eindrücke, Gedanken. Schon nach dem ersten Morgen wirkt die eigene, bescheidene Hilfe ein wenig beschämend angesichts der mehreren Hundert Ehrenamtlichen, die nicht nur ein paar Mal, sondern viele von ihnen die gesamten drei Wochen helfen. Nein, das ist untertrieben: Sie teilen ab 11 Uhr die Essen aus, Tee und Kaffee in unendlichen Mengen, sie schleppen die Pigfit-Eimer mit Essensresten, bei bis zu 600 Besuchern täglich, Berge von Geschirr und Besteck nach draußen, räumen Tabletts von den Tischen, säubern sie, helfen Alten und Behinderten, schmieren und belegen Brote für Zuhause. Dies ist nicht das Land, das sozial so schnell so viel kälter wurde und wird – Geiz ist geil, wir wollen alles, immer und so billig wie möglich, und kein Gedanke daran, wer den wirklichen Preis zahlt und welche Löhne, und als Konsequenz Altersarmut hinter den Produkten steckt. Diese vielen Helfer praktizieren, was in der Generation meiner Eltern und Großeltern Stadtteilkultur war, was ich aber auch erlebte in Arbeitervierteln in Köln, im Ruhrgebiet: Man half sich in Krisen, schenkte Nähe, die Alten verkümmerten nicht in Einsamkeit, wurden nicht für Innenstadt-Chic und Geschäfte über drei Etagen gleich mit hinaussaniert. Doch die trifft man auch hier: Wenn um Zehn die Kirchentüren geöffnet werden, kommen die ersten, meist Witwen, umklammern den ersten Kaffeepott, genießen behutsam das erste Süßteilchen und warten in der Wärme der Kirche, die, wie man mit Glück erfährt, höher ist als zu Hause, auf die anderen. Sie leben alleine, freuen sich aufs Essen für 1,50, sparen sich das Kochen und sie bleiben, bis um Drei die Türen wieder geschlossen werden. Das Wichtigste ist, mit jemandem reden zu können, vor dem man sich nicht zu verstecken braucht. „Ist der Arzt schon da?“, fragt um kurz nach Zehn schon die erste. Armut drückt sich auch im Körper aus. Aber wir sind doch nicht in den USA. Hat hier nicht jeder auch der Ärmste eine Versicherungskarte? Doch, aber sie schämen sich, in ein Wartezimmer zu gehen. „Und hier hat der Doktor auch Zeit“. Derselbe Andrang jeden Morgen: Die ersten Vier warten in der vorderen Kirchenbank auf den Frisör. Der Renner! Bei Billigketten gibt es einen Schnitt für acht Euro. Und das ist für diese Menschen noch zu viel! Unfassbar. Ob er noch eine Brottüte bekommen könnte? Einen Zahnarzt, sieht man beim leisen Dank, kann er sich nicht leisten. Am berührendsten eine Gruppe teils mehrfach behinderter jugendlicher Menschen. Dezent, zärtlich geradezu, bremsen ihre Betreuer die kleinen Temperamentsausbrüche. Alle sind selbstverständlicher Teil der großen Gemeinschaft. Ein Bild steigt in den Kopf, emotional kaum zu kontrollieren: die „Grauen Busse“in Weißenau und Hundert anderen Orten. Eine Hoffnung schafft sich Raum an diesem Vormittag. Nie wieder! Wir haben doch, ein wenig zumindest, aus unserer Geschichte gelernt. Auch aus der Vesperkirche lässt sich etwas lernen über das Heute: Armut ist unter uns und wird mehr. „Stopp Armut“nennt sich ein breites Bündnis im Landkreis.