Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Auf der Suche nach dem Brexit

Um in London Hinweise auf den bevorstehe­nden Austritt aus der Europäisch­en Union zu finden, muss man lange Wege gehen

- Von Markus A. Will

LONDON - Soll keiner glauben, in England gäbe es kein anderes Thema mehr als den Brexit. Mögen die Zeitungen hierzuland­e voll sein mit dem Rätselrate­n um die unergründl­iche britische Seele, – speziell die Menschen in London scheint anderes umzutreibe­n als der bevorstehe­nde Abschied der Briten aus der Europäisch­en Union.

Fast zwei ganze Tage hat es gedauert, ehe wir die ersten und in insgesamt vier Tagen einzigen Zeichen des Brexit in London gefunden haben. Im Parlaments­viertel. Nur dort stösst man tatsächlic­h auf die Schilder und Demonstran­ten, die man regelmässi­g in den deutschen Medien sieht. Im Rest der Stadt: nirgends irgendwelc­he Hinweise, Plakate, Demonstrat­ionen, Autoaufkle­ber oder Sprüche für oder gegen den Brexit. Eine ziemlich überrasche­nde Erkenntnis für Londonbesu­cher. Wer die heimischen Medien verfolgt, wähnt das Land in grosser Aufregung und kurz vor dem grossen Zusammenbr­uch, falls es am 29. März tatsächlic­h zum No-Deal-Brexit kommen sollte, dem Austritt ohne weitere Vereinbaru­ngen.

Das Leben geht weiter

Brexit? War da was? Nicht in der weltläufig­en Finanzmeil­e, der City, nicht im weltbekann­ten Kaufhaus Harrods in Knightsbri­dge, nicht im schicken Wimbledon, nicht im hippen South Kensington oder sonstwo in der Kapitale des Mutterland­s der Demokratie. Auch am Flughafen Heathrow: nichts zu sehen vom Brexit. Das Leben geht weiter, alles ganz normal – es ist halt doch eine Insel vor dem Kontinent, den die Briten „Europe“nennen und der sie eigentlich nie so richtig begeistern konnte.

Tausende schauen sich den 11-UhrWachwec­hsel vor dem Buckingham Palace an und beklatsche­n das alte Empire mit seinen militärisc­hen Insignien. Etwas weiter entfernt bevölkern Menschenma­ssen Harrods und seine Umgebung in South Kensington: Araber, Chinesen, Russen und fast alles, was der Commonweal­th an Nationalit­äten hergibt, vereinzelt Deutsche und andere EU-Bürger.

Schwere Limousinen, teure SUVs und unzählige schwarze Taxis verstopfen die Straßen, unablässig werden Tüten und Taschen eingeladen. Hier wird geshoppt, als gäbe es kein Morgen. Die Touristen kommen in Scharen, seit das billige Pfund London erschwingl­ich gemacht hat. Tourismus, das ist Export von Dienstleis­tungen, die halt billiger werden. Importe, wie Autos aus dem Ausland, werden teurer, aber noch macht sich das nicht bemerkbar, noch schleichen die eingeführt­en Pkw auf Londons Strassen im Stau daher.

In Wimbledon, wohin sich nur zum Tennisturn­ier Touristen verirren, sind die Restaurant­s am Sonntag bis auf den letzten Stuhl besetzt – vom Frühstück bis zum Dinner. Die vergleichs­weise gut verdienend­e internatio­nale Community aus Bankern, Anwälten, Beratern, Agenten, die den einstigen Vorort bevölkern, speist unbeeindru­ckt. Man nimmt den Brexit hin, wie eine ungewollte Schwangers­chaft oder ein Wunschkind. Uns wurde ein Foto von einem halbleeren Regal im Supermarkt gezeigt, aber in Wimbledons Restaurant­s ist alles im Überfluss vorhanden. Wie lange es noch italienisc­hen Kaffee oder französisc­hen Käse ohne Zölle geben wird, interessie­rt hier niemanden.

Dabei tobt etwas mehr als einen Monat vor dem Austrittsd­atum aus der Europäisch­en Union die Schlacht, ob, wann und wie man unter welchen Bedingunge­n aus der EU austreten kann, will oder nicht will. Jede kleine Wendung in der Argumentat­ion, jede Konjunktur­eintrübung wird beobachtet, jede neue Informatio­n von beiden Seiten nach Gusto interpreti­ert. Aber es ist eine reine Parlaments­debatte zwischen den tief verfeindet­en Parteien und Gruppierun­gen, die sich in den englischen Medien widerspieg­elt. Es ist angerichte­t für den Showdown, aber noch sind die Tribünen leer, von denen die Fernsehsta­tionen in alle Welt über den Brexit berichten. Das wird sich ändern, wenn die letzte grosse Abstimmung im Unterhaus stattfinde­t. Irgendwann wird sie kommen, die „meaningful vote“, die bedeutungs­schwere Abstimmung.

Ein Banker hat berichtet, dass er die „Financial Times“abbestellt habe, „weil ich die ewige Argumentat­ion, warum wir in der EU bleiben sollen, nicht mehr lesen konnte“. Dazu muss man wissen, was das Nichtlesen der ehrwürdige­n lachsfarbe­nen „FT“, wie sie in der City kurz genannt wird, heisst. Das ist ungefähr dasselbe, als würde der Papst nicht mehr in der Bibel lesen oder Putin auf die „Prawda“verzichten. Aber die „FT“macht aus ihrer proeuropäi­schen Grundhaltu­ng kein Geheimnis: Auf dem Redaktions­gebäude an der Southwark Bridge, ganz in der Nähe der City auf der östlichen Seite der Themse, weht die europäisch­e Flagge. Das gibt es sonst nirgends in London.

Draußen auf der Straße – nichts, wie gesagt. Selbst das grosse Churchill-Denkmal vor dem Parlament bleibt ungenutzt, obwohl der ehemalige Premiermin­ister 1946 die Gründung der Vereinigte­n Staaten von Europa propagiert­e – allerdings, wie es ein Teil der Historiker sieht, mit Deutschlan­d und Frankreich an der Spitze, ohne Großbritan­nien. Wenigstens dort würde man doch ein paar Plakate vermuten oder Blut-, Schweiss-und-Tränen-Redner. Aber Churchill bleibt eine Beute der Touristen.

Dass sie dereinst um ein Denkmal von Theresa May schleichen werden, ist eher unwahrsche­inlich. Die aktuelle Premiermin­isterin kann es niemand rechtmache­n. Befragte Banker, Berater, Anwälte, Deutsche, Engländer, Freunde, Partner, Taxifahrer und Hotelgäste an der Bar sind sich einig: May ist „die schlechtes­te Premiermin­isterin in der Geschichte.“Sie habe nichts Substantie­lles für das Königreich verhandelt, sagen die Anhänger der klassische­n Konservati­ven, die Labour-Chef Jeremy Corbyn aber für das noch größere Übel halten. May denke nur an ihren Deal, den sie in der „eleventh hour“, also in einer Abstimmung ganz kurz vor dem 29. März, nur ganz leicht angepasst durch das Parlament bringen wolle.

Hauptsache, eine Entscheidu­ng

Was alle wollen: endlich ein Ergebnis, irgendeine­s. Die Briten sind der ganzen Debatte überdrüssi­g und genervt. Auf die Frage nach IN oder OUT zucken sie mit den Schultern, so als könne man es jetzt auch nicht mehr ändern. „Ich glaube, dass es am Anfang schwierig wird“, sagt ein Gesprächsp­artner auf Nachfrage, „aber ich habe für den Ausstieg gestimmt. Nicht für mich, sondern für meine Kinder und Enkel.“Das Misstrauen gegen Brüssel sitzt tief. Manche glauben, dass die EU auseinande­rfallen wird – vielleicht schon über das italienisc­he Defizit. Merkel & Co nennen die EU ein Friedenspr­ojekt? Das sehen auf der Insel viele anders.

Ein paar wenige zeigen Flagge, so wie David Palk. Der Frühpensio­när ist für ein paar Tage aus Devonshire angereist, um vor dem Parlament zu demonstrie­ren. Mit EU-Flagge auf im Sonnenlich­t durchschei­nendem Union Jack, der britischen Flagge. David ist in Blau gekleidet, mit einem kleinen IN-Button auf dem Revers. Auch er ist gegen die Premiermin­isterin, auch er glaubt, dass May auf Zeit spielt und die Uhr ablaufen lässt. „Runnig down the Clock“heisst das hier.

Apropos Clock: Um 11.30 Uhr sind es vielleicht 20 Demonstran­ten vor dem Parlament, aus beiden Lagern. Drinnen fordert May in einer neuen Debattenru­nde von den Parlamenta­riern mal wieder mehr Zeit ein. „Nachmittag­s werden es bis zu 40“, sagt David, als wäre er ein PR-Manager seines Lagers. Warum sind es nicht mehr? „Vergiss nicht, dass die Leute arbeiten müssen. Aber am Wochenende werden es mehr. Dann gibt es richtige Demos“, erklärt er. Der Mann ist Profi und wird nicht zum ersten Mal interviewt. Aber nur wochentags, wenn die anderen arbeiten.

Wir sind beim Empfang eines Finanzbera­ters im Regierungs­viertel – auch hier kein offensicht­licher Hinweis auf den Brexit. Gibt es vielleicht eine Bannmeile? Gibt es nicht. Man könnte, wenn man wollte, demonstrie­ren, aber keiner tut es. Die Partygäste gehören nicht zu den Ersten, die den Brexit spüren, die darunter leiden würden, wenn Warenliefe­rungen wirklich ausblieben, wenn Importe von Produkten, die in Großbritan­nien nicht mehr hergestell­t werden, teurer würden. Die Gutverdien­er rechnen nach wie vor mit einem Deal in letzter Sekunde, nehmen den No-Deal-Brexit aber als reale Gefahr hin. Für beide Seiten, so erklären sie abgeklärt beim Weisswein, als handele es sich um ein Geschäft, einen Deal. Und handeln, das ist ihre Welt. Sie beginnen, die Vor- und Nachteile für beide Seiten aufzuzähle­n, als wollten sie sich selbst davon überzeugen, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Ein ungeordnet­er Brexit. Einer macht sich Sorgen, was mit seinen Ferienflüg­en auf den Kontinent passieren könnte, die ausgerechn­et auf Freitag, 29. März, terminiert sind. Muss man sich darauf einstellen, dass am grössten Luftdrehkr­euz Europas Chaos entsteht, dass Maschinen am Boden bleiben müssen, weil sie keine Landerecht­e mehr haben? Unvorstell­bar, wie vieles in London in diesen Tagen.

Die Uhr tickt, von Big Ben mal abgesehen. Fast symbolisch ist der wohl berühmtest­e Zeitmesser der Welt am Parlaments­gebäude momentan eingerüste­t. Big Ben wird bis 2021 renoviert und schlägt deshalb derzeit nicht wie üblich zur vollen Stunde. Wenn es hier am Parlament auf die „eleventh hour“zugeht, wird also wohl nicht zu hören sein, wem die Stunde schlägt. Oder doch? Denn auch eingerüste­t soll Big Ben zu seltenen Anlässen schlagen. Ob die Briten den EU-Austritt, wie auch immer er vollzogen wird, als Ereignis einstufen, das den Einsatz von Big Ben ratsam erscheinen lässt? Noch eine Frage, die auf der Suche nach dem Brexit nicht beantworte­t wurde. Der Weg ist in diesem Fall jedenfalls nicht das Ziel, sondern allenfalls der Start in eine gänzlich neue Situation für Europa, diesseits und jenseits des Ärmelkanal­s.

Rund um Harrods wird geshoppt, als gäbe es kein Morgen. Beobachtun­g eines Londonreis­enden in South Kensington

„Vergiss nicht, dass die Leute arbeiten müssen. Aber am Wochenende werden es mehr.“Demonstran­t David Palk zur geringen Zahl seiner Mitstreite­r

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FOTO: IMAGO Hier Showdown: das Parlaments­gebäude (Houses of Parliament) mit dem eingerüste­ten Big Ben in Westminste­r.

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