Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Waterloo in Kanada
Frühere Nordamerika-Tochter des Wohnmobilbauers Erwin Hymer geht in die Insolvenz
WATERLOO/RAVENSBURG - Deprimierend, bedrückend, so beschreibt Mia Hochmann die Stimmung in den vergangenen Wochen in den Werkhallen von Erwin Hymer Nordamerika. „Die Produktion stand still, die Leute spielten Karten – und warteten“, erzählt die 21-jährige Studentin aus Ravensburg, die eigentlich noch bis Ende Februar bei dem Wohnmobilbauer im kanadischen Cambridge arbeiten wollte.
Doch die Ereignisse am vergangenen Freitag beendeten nicht nur das Praktikum der Oberschwäbin, sondern auch das Warten von rund 900 Mitarbeitern von Erwin Hymer Nordamerika. „Ein anonymer Typ, den keiner kannte, verlas einen Zettel, auf dem in dürren Worten stand: Das Unternehmen ist in der Insolvenz, wir sind alle entlassen und dürfen nur noch unsere Sachen holen und die Schreibtische räumen“, erzählt Hochmann, die in Reutlingen Projektentwicklung studiert.
Klar ist: Die ehemalige Nordamerika-Tochter von Europas größtem Wohnmobilbauer Erwin Hymer aus dem oberschwäbischen Bad Waldsee, die bis Ende Januar unter dem Namen Erwin Hymer Nordamerika firmierte, steht möglicherweise vor dem Ende. Das Unternehmen hat am vergangenen Freitag in Toronto ein Insolvenzverfahren eingeleitet, 900 Mitarbeiter entlassen und vier Werke in der westlich von Toronto gelegenen Region rund um die Doppelstadt Kitchener-Waterloo geschlossen.
Der Hintergrund: Wenige Wochen bevor die Übernahme der Erwin-Hymer-Gruppe (EHG) durch Thor abgeschlossen werden sollte, tauchten bei der Nordamerika-Tochter finanzielle Unregelmäßigkeiten auf. Der US-Konzern und die EHGBesitzer, die Witwe und die beiden Kinder von Unternehmensgründer Erwin Hymer, entschlossen sich daraufhin, das Nordamerika-Geschäft der EHG aus dem milliardenschweren Deal herauszunehmen, sodass Gerda Hymer und ihre beiden Kinder Carolin und Christian die Skandalfirma nun über die Holdingfirma Corner Flag halten.
Das, was die EHG in ersten Äußerungen als „finanzielle Unregelmäßigkeiten“bezeichnete, nennt Vermögensverwalter Johannes Stegmaier massiven Betrug. Der geschäftsführende Gesellschafter im Waldseer Family Office Münster Stegmaier Rombach, der die Familie Hymer vertritt, erklärt, dass die EHG und die Familie bis Mitte Dezember nichts von der Finanzaffäre gewusst hätten. Die Sache sei auch nicht bei der Prüfung der Bücher durch Thor im Zuge des Verkaufs aufgefallen. „Eine ehemalige Mitarbeitern, eine Whistleblowerin, die früher in Cambridge gearbeitet hat, hat uns Anfang Dezember angerufen und auf die falschen Zahlen hingewiesen“, sagt Johannes Stegmaier der „Schwäbischen Zeitung“. Ohne diese Hinweise sei der Betrug, in den das ganze frühere Management verwickelt gewesen sei, nicht zu erkennen gewesen.
Die EHG hatte daraufhin eigene Wirtschaftsprüfer in Kanada im Einsatz. Der Vorstandschef Jim Hammill ging noch vor der Jahreswende in den Krankenstand, bevor das Bad Waldseer Unternehmen im Januar neben Hammill auch Finanzchef Mark Weigel und Produktionsvorstand Howard Stratton beurlaubte. „Wir recherchieren gerade, ob wir auch schon betrogen worden sind, als wir das Unternehmen vor drei Jahren gekauft haben“, erklärt Stegmaier weiter.
Die EHG hatte den Wohnmobilbauer Anfang 2016 unter dem Namen Roadtrek Motorhomes der US-Beteiligungsfirma Industrial Opportunities abgekauft. Es war der Versuch der Waldseeer, auf dem nordamerikanischen Markt Fuß zu fassen. Zum damaligen Zeitpunkt beschäftigte das Unternehmen etwa 300 Mitarbeiter und erwirtschaftete mit jährlich rund 1000 verkauften Fahrzeugen einen Umsatz von 86 Millionen Euro.
Nach Angaben von Stegmaier habe es keine andere Möglichkeit gegeben, als vor Gericht ein Insolvenzverwaltungsverfahren nach kanadischem Recht zu eröffnen. „Nun wird geprüft, ob es eine Fortführungsperspektive für das Unternehmen gibt und ob sich Interessenten finden“, erläutert der Vertreter der Nachkommen von Erwin Hymer. „Wir hoffen, dass sich Bieter finden und wir bis Ende März klarer sehen.“
Zu den Motiven für die Manipulation der Zahlen sagt Johannes Stegmaier nichts. „Es wurden Umsätze massiv aufgebläht. Warum das überhaupt begonnen wurde – ich weiß es nicht“, sagt der Vermögensverwalter. „Es hat wohl keine größere Bereicherung des Managements gegeben. Man hat eher das Gefühl, dass sich da jemand als erfolgreicher Unternehmer darstellen wollte.“Der frühere Vorstandschef der NordamerikaTochter der EHG sieht das anders: In einer E-Mail, die dem Fernsehsender CTV vorliegt, erklärte Jim Hammill, dass er unschuldig sei und dass er von der Manipulation der Zahlen nichts gewusst hätte. Sein früherer Finanzchef Mark Weigel sieht das mittlerweile offenbar anders: Nach Angaben von Stegmaier hilft Weigel den Wirtschaftsprüfern dabei, den Betrug aufzuklären.
Hätte die EHG den Betrug in der Zeit seit der Übernahme von Roadtrek im Jahr 2016 erkennen müssen? Vermögensverwalter Stegmaier ist bemüht, jede Schuldzuweisung zu vermeiden. „Der Betrug war geschickt angelegt, da musste man schon sehr, sehr tief in die Bücher blicken. Und außerdem hatten wir Testate von Wirtschaftsprüfern“, sagt Stegmaier.
EHG-Chef Martin Brandt, der die Übernahme von Roadtrek vor drei Jahren eingefädelt hat, erklärt, dass die Prüfung vor dem Kauf „den üblichen Standards entsprach und durch eine erfahrene externe Wirtschaftsprüfungsgesellschaft durchgeführt wurde“. Brandt hofft, dass die Affäre kein schlechtes Bild auf die Marke Erwin Hymer werfen wird und dass die „Kunden sehr wohl zwischen den Ereignissen in Kanada und der Leistungsfähigkeit unserer Produkte unterscheiden.“
Proteste wütender Mitarbeiter
Die mehr als 900 Mitarbeiter in Kitchener und Cambridge, die seit Freitag arbeitslos sind, fordern eine Untersuchung durch den Staatsanwalt, um zu klären, wer für den Betrug die Verantwortung trägt. Ihren Ärger zeigten sie am Dienstag bei einer Demonstration vor dem Werk in Cambridge. „Einige waren wütend, andere weinten, es gab Kollegen, die haben seit mehr als 30 Jahren für das Unternehmen gearbeitet“, sagte Produktionsleiter William Singleton der Zeitung „Toronto Star“.
Auf den Bannern, die die Demonstranten trugen, standen Parolen wie „Betrogen“, „Wir wollen Antworten“oder „Lasst Roadtrek lokal“. Für die Mitarbeiter war der Schock auch deshalb so groß, weil ihre Chefs im Dezember noch keinen Hinweis auf die Probleme gegeben hatten. Im Gegenteil: Auf der opulenten Weihnachtsfeier mit Truthahn und Wein hatte Produktionsvorstand Howard Stratton den Mitarbeitern noch von glänzenden Aussichten vorgeschwärmt. Eben der Stratton, den die EHG nach der Beurlaubung Ende Januar dann doch noch fristlos gekündigt hat. Genauso wie Finanzchef Weigel und Vorstandschef Jim Hammill.