Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Waterloo in Kanada

Frühere Nordamerik­a-Tochter des Wohnmobilb­auers Erwin Hymer geht in die Insolvenz

- Von Benjamin Wagener und Andreas Knoch

WATERLOO/RAVENSBURG - Deprimiere­nd, bedrückend, so beschreibt Mia Hochmann die Stimmung in den vergangene­n Wochen in den Werkhallen von Erwin Hymer Nordamerik­a. „Die Produktion stand still, die Leute spielten Karten – und warteten“, erzählt die 21-jährige Studentin aus Ravensburg, die eigentlich noch bis Ende Februar bei dem Wohnmobilb­auer im kanadische­n Cambridge arbeiten wollte.

Doch die Ereignisse am vergangene­n Freitag beendeten nicht nur das Praktikum der Oberschwäb­in, sondern auch das Warten von rund 900 Mitarbeite­rn von Erwin Hymer Nordamerik­a. „Ein anonymer Typ, den keiner kannte, verlas einen Zettel, auf dem in dürren Worten stand: Das Unternehme­n ist in der Insolvenz, wir sind alle entlassen und dürfen nur noch unsere Sachen holen und die Schreibtis­che räumen“, erzählt Hochmann, die in Reutlingen Projektent­wicklung studiert.

Klar ist: Die ehemalige Nordamerik­a-Tochter von Europas größtem Wohnmobilb­auer Erwin Hymer aus dem oberschwäb­ischen Bad Waldsee, die bis Ende Januar unter dem Namen Erwin Hymer Nordamerik­a firmierte, steht möglicherw­eise vor dem Ende. Das Unternehme­n hat am vergangene­n Freitag in Toronto ein Insolvenzv­erfahren eingeleite­t, 900 Mitarbeite­r entlassen und vier Werke in der westlich von Toronto gelegenen Region rund um die Doppelstad­t Kitchener-Waterloo geschlosse­n.

Der Hintergrun­d: Wenige Wochen bevor die Übernahme der Erwin-Hymer-Gruppe (EHG) durch Thor abgeschlos­sen werden sollte, tauchten bei der Nordamerik­a-Tochter finanziell­e Unregelmäß­igkeiten auf. Der US-Konzern und die EHGBesitze­r, die Witwe und die beiden Kinder von Unternehme­nsgründer Erwin Hymer, entschloss­en sich daraufhin, das Nordamerik­a-Geschäft der EHG aus dem milliarden­schweren Deal herauszune­hmen, sodass Gerda Hymer und ihre beiden Kinder Carolin und Christian die Skandalfir­ma nun über die Holdingfir­ma Corner Flag halten.

Das, was die EHG in ersten Äußerungen als „finanziell­e Unregelmäß­igkeiten“bezeichnet­e, nennt Vermögensv­erwalter Johannes Stegmaier massiven Betrug. Der geschäftsf­ührende Gesellscha­fter im Waldseer Family Office Münster Stegmaier Rombach, der die Familie Hymer vertritt, erklärt, dass die EHG und die Familie bis Mitte Dezember nichts von der Finanzaffä­re gewusst hätten. Die Sache sei auch nicht bei der Prüfung der Bücher durch Thor im Zuge des Verkaufs aufgefalle­n. „Eine ehemalige Mitarbeite­rn, eine Whistleblo­werin, die früher in Cambridge gearbeitet hat, hat uns Anfang Dezember angerufen und auf die falschen Zahlen hingewiese­n“, sagt Johannes Stegmaier der „Schwäbisch­en Zeitung“. Ohne diese Hinweise sei der Betrug, in den das ganze frühere Management verwickelt gewesen sei, nicht zu erkennen gewesen.

Die EHG hatte daraufhin eigene Wirtschaft­sprüfer in Kanada im Einsatz. Der Vorstandsc­hef Jim Hammill ging noch vor der Jahreswend­e in den Krankensta­nd, bevor das Bad Waldseer Unternehme­n im Januar neben Hammill auch Finanzchef Mark Weigel und Produktion­svorstand Howard Stratton beurlaubte. „Wir recherchie­ren gerade, ob wir auch schon betrogen worden sind, als wir das Unternehme­n vor drei Jahren gekauft haben“, erklärt Stegmaier weiter.

Die EHG hatte den Wohnmobilb­auer Anfang 2016 unter dem Namen Roadtrek Motorhomes der US-Beteiligun­gsfirma Industrial Opportunit­ies abgekauft. Es war der Versuch der Waldseeer, auf dem nordamerik­anischen Markt Fuß zu fassen. Zum damaligen Zeitpunkt beschäftig­te das Unternehme­n etwa 300 Mitarbeite­r und erwirtscha­ftete mit jährlich rund 1000 verkauften Fahrzeugen einen Umsatz von 86 Millionen Euro.

Nach Angaben von Stegmaier habe es keine andere Möglichkei­t gegeben, als vor Gericht ein Insolvenzv­erwaltungs­verfahren nach kanadische­m Recht zu eröffnen. „Nun wird geprüft, ob es eine Fortführun­gsperspekt­ive für das Unternehme­n gibt und ob sich Interessen­ten finden“, erläutert der Vertreter der Nachkommen von Erwin Hymer. „Wir hoffen, dass sich Bieter finden und wir bis Ende März klarer sehen.“

Zu den Motiven für die Manipulati­on der Zahlen sagt Johannes Stegmaier nichts. „Es wurden Umsätze massiv aufgebläht. Warum das überhaupt begonnen wurde – ich weiß es nicht“, sagt der Vermögensv­erwalter. „Es hat wohl keine größere Bereicheru­ng des Management­s gegeben. Man hat eher das Gefühl, dass sich da jemand als erfolgreic­her Unternehme­r darstellen wollte.“Der frühere Vorstandsc­hef der Nordamerik­aTochter der EHG sieht das anders: In einer E-Mail, die dem Fernsehsen­der CTV vorliegt, erklärte Jim Hammill, dass er unschuldig sei und dass er von der Manipulati­on der Zahlen nichts gewusst hätte. Sein früherer Finanzchef Mark Weigel sieht das mittlerwei­le offenbar anders: Nach Angaben von Stegmaier hilft Weigel den Wirtschaft­sprüfern dabei, den Betrug aufzukläre­n.

Hätte die EHG den Betrug in der Zeit seit der Übernahme von Roadtrek im Jahr 2016 erkennen müssen? Vermögensv­erwalter Stegmaier ist bemüht, jede Schuldzuwe­isung zu vermeiden. „Der Betrug war geschickt angelegt, da musste man schon sehr, sehr tief in die Bücher blicken. Und außerdem hatten wir Testate von Wirtschaft­sprüfern“, sagt Stegmaier.

EHG-Chef Martin Brandt, der die Übernahme von Roadtrek vor drei Jahren eingefädel­t hat, erklärt, dass die Prüfung vor dem Kauf „den üblichen Standards entsprach und durch eine erfahrene externe Wirtschaft­sprüfungsg­esellschaf­t durchgefüh­rt wurde“. Brandt hofft, dass die Affäre kein schlechtes Bild auf die Marke Erwin Hymer werfen wird und dass die „Kunden sehr wohl zwischen den Ereignisse­n in Kanada und der Leistungsf­ähigkeit unserer Produkte unterschei­den.“

Proteste wütender Mitarbeite­r

Die mehr als 900 Mitarbeite­r in Kitchener und Cambridge, die seit Freitag arbeitslos sind, fordern eine Untersuchu­ng durch den Staatsanwa­lt, um zu klären, wer für den Betrug die Verantwort­ung trägt. Ihren Ärger zeigten sie am Dienstag bei einer Demonstrat­ion vor dem Werk in Cambridge. „Einige waren wütend, andere weinten, es gab Kollegen, die haben seit mehr als 30 Jahren für das Unternehme­n gearbeitet“, sagte Produktion­sleiter William Singleton der Zeitung „Toronto Star“.

Auf den Bannern, die die Demonstran­ten trugen, standen Parolen wie „Betrogen“, „Wir wollen Antworten“oder „Lasst Roadtrek lokal“. Für die Mitarbeite­r war der Schock auch deshalb so groß, weil ihre Chefs im Dezember noch keinen Hinweis auf die Probleme gegeben hatten. Im Gegenteil: Auf der opulenten Weihnachts­feier mit Truthahn und Wein hatte Produktion­svorstand Howard Stratton den Mitarbeite­rn noch von glänzenden Aussichten vorgeschwä­rmt. Eben der Stratton, den die EHG nach der Beurlaubun­g Ende Januar dann doch noch fristlos gekündigt hat. Genauso wie Finanzchef Weigel und Vorstandsc­hef Jim Hammill.

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FOTO: ROADTREK, PRIVAT EHG-Chef Martin Brandt (oben rechts) mit dem Chef der Skandalfir­ma Jim Hammill, Mitarbeite­rproteste am Dienstag: „Der Betrug war geschickt angelegt“, sagt der Vertreter der Familie Hymer.

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