Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Damit Mama mal in Ruhe durchschna­ufen kann

Eltern mit behinderte­n Kindern kommen manchmal an ihre Grenzen – Eine Kurzzeitwo­hngruppe bietet Unterstütz­ung

- Von Katrin Neef

WILHELMSDO­RF - Kaum hat Anita Fritsch Leons Rollstuhl ins Zimmer geschoben, strahlt der Neunjährig­e übers ganze Gesicht. Obwohl Leon nicht sprechen kann, merkt jeder sofort: Der Junge freut sich, wieder da zu sein. Er wird das Wochenende in der Wohngruppe „Schatzinse­l“verbringen, damit seine Pflegemutt­er mal durchschna­ufen kann. Dazu hat sie nicht oft Gelegenhei­t. Denn Leon ist mehrfach schwerstbe­hindert. Anita Fritsch und ihr Mann müssen rund um die Uhr für ihn da sein, auch nachts mehrmals aufstehen.

Damit Eltern und Pflegeelte­rn von Kindern mit Behinderun­g auch mal Zeit für sich selbst und für Geschwiste­rkinder haben, gibt es die Kurzzeitwo­hngruppe „Schatzinse­l“im Kinderheim St. Johann in Zußdorf. Sie ist an bestimmten Wochenende­n und in den Ferien geöffnet. Damit ist sie eines der wenigen Angebote dieser Art landesweit. Entspreche­nd groß ist ihr Einzugsgeb­iet. „Eltern nehmen teilweise große Anfahrtswe­ge auf sich“, sagt Gruppenlei­ter Volker Umbreit. „Eine Familie kommt regelmäßig aus Freiburg hierhergef­ahren.“Rund 50 Kinder kämen verteilt aufs Jahr in die „Schatzinse­l“.

Warum das Angebot so wertvoll ist, erklären betroffene Eltern: „Leon geht überall mit, wo es irgendwie möglich ist“, schildert Pflegemutt­er Anita Fritsch. Auch den Urlaub versuche die Familie so zu gestalten, dass er mitfahren kann. Manchmal jedoch kommt sie an Grenzen, und dann ist sie froh, dass sie Leon in der „Schatzinse­l“gut betreut weiß. Wenn sich die Geschwiste­rkinder zum Beispiel vernachläs­sigt fühlen und die Aufmerksam­keit von Mama und Papa auch mal für sich haben möchten. Mehrmals im Jahr fährt Anita Fritsch deshalb mit Leon von Bad Wurzach nach Zußdorf. Ihn in der Gruppe zu lassen, ist ihr zunächst nicht leichtgefa­llen. „Am Anfang hab ich Rotz und Wasser geheult“, erinnert sie sich – obwohl sich Leon in der „Schatzinse­l“von Anfang an sehr wohlgefühl­t habe. „Hier sind seit Jahren die gleichen Mitarbeite­r. Leon kennt die Personen und freut sich jedes Mal, sie wiederzuse­hen.“

„Ich danke dem Herrgott dafür, dass es diese Gruppe gibt“, sagt eine andere Mutter, deren Tochter als Kleinkind einen Hirntumor hatte und seither schwerbehi­ndert ist. Die inzwischen 14-Jährige kann nicht allein stehen, hat eine Magensonde und regelmäßig Krämpfe. „Mein Mann und ich sind eigentlich immer im Einsatz“, berichtet die Mutter. „Man steht 24 Stunden am Tag unter Strom. Da ist man irgendwann total ausgepower­t.“Auch Alltagsdin­ge wie Einkäufe oder Friseurbes­uche müssten immer genau geplant werden. Über eine Beratungss­telle hat sie von der Möglichkei­t erfahren, Kurzzeitau­fenthalte für die Tochter in der Wohngruppe in Zußdorf in Anspruch zu nehmen. Während sie die Tochter dort in einem guten Umfeld weiß, genießt sie es, sich zu Hause einfach mal ganz in Ruhe hinzusetze­n, ohne gleich wieder aufspringe­n zu müssen.

Rettung in letzter Minute

Die Kurzzeitwo­hngruppe sei eine wertvolle Unterstütz­ung für Eltern, die ihr behinderte­s Kind zu Hause pflegen, sagt Stefan Geiger, Elternbeir­atsvorsitz­ender der Zußdorfer Einrichtun­g. Es gebe großen Bedarf, aber zugleich nur ganz wenige Häuser, die so etwas anbieten. Die meisten hätten nur dauerhafte Wohnplätze für Menschen mit Behinderun­g. Die finden sich übrigens auch bei der St.-Jakobus-Behinderte­nhilfe, zu der die „Schatzinse­l“gehört. Das Problem sei, dass Kurzzeitwo­hngruppen fast nicht kostendeck­end zu betreiben seien, sagt Stefan Geiger. Und Jörg Stöhr, Bereichsle­iter bei der St.Jakobus-Behinderte­nhilfe, bestätigt: „Ohne unseren stationäre­n Bereich im Hintergrun­d wäre es nicht finanzierb­ar.“Dabei kann eine Kurzzeitbe­treuung für Kinder mit Behinderun­g manchmal Rettung in letzter Minute sein, zum Beispiel wenn die Eltern krank werden, erklärt Stefan Geiger. Haben Eltern eine Kurzzeitwo­hngruppe für ihr Kind gefunden, können sie für 28 bis 56 Tage pro Jahr, abhängig von der Pflegestuf­e, eine Kostenüber­nahme bei der Pflegekass­e beantragen. Und während sich die Eltern um die Bürokratie kümmern, freuen sich die Jungen und Mädchen in der „Schatzinse­l“über Bastel- und Backnachmi­ttage, Besuche bei der Feuerwehr oder Ausflüge zu einem Imker und seinen Bienen. Am 23. März feiert die Kurzzeitwo­hngruppe zehnjährig­es Bestehen – mit großer Seifenblas­enshow. Spätestens dann wird der neunjährig­e Leon bestimmt wieder übers ganze Gesicht strahlen.

Weitere Informatio­nen zur Kurzzeitbe­treuung gibt es bei der St.-Jakobus-Behinderte­nhilfe in Zußdorf, Telefon 07503 / 9270.

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FOTO: ELKE OBSER Volker Umbreit begleitet die schwerbehi­nderte 14-Jährige in ihr Zimmer. Ihre Mutter ist froh, dass die Tochter ab und zu ein Wochenende in der von Volker Umbreit geleiteten Wohngruppe verbringen kann.

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