Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Damit Mama mal in Ruhe durchschnaufen kann
Eltern mit behinderten Kindern kommen manchmal an ihre Grenzen – Eine Kurzzeitwohngruppe bietet Unterstützung
WILHELMSDORF - Kaum hat Anita Fritsch Leons Rollstuhl ins Zimmer geschoben, strahlt der Neunjährige übers ganze Gesicht. Obwohl Leon nicht sprechen kann, merkt jeder sofort: Der Junge freut sich, wieder da zu sein. Er wird das Wochenende in der Wohngruppe „Schatzinsel“verbringen, damit seine Pflegemutter mal durchschnaufen kann. Dazu hat sie nicht oft Gelegenheit. Denn Leon ist mehrfach schwerstbehindert. Anita Fritsch und ihr Mann müssen rund um die Uhr für ihn da sein, auch nachts mehrmals aufstehen.
Damit Eltern und Pflegeeltern von Kindern mit Behinderung auch mal Zeit für sich selbst und für Geschwisterkinder haben, gibt es die Kurzzeitwohngruppe „Schatzinsel“im Kinderheim St. Johann in Zußdorf. Sie ist an bestimmten Wochenenden und in den Ferien geöffnet. Damit ist sie eines der wenigen Angebote dieser Art landesweit. Entsprechend groß ist ihr Einzugsgebiet. „Eltern nehmen teilweise große Anfahrtswege auf sich“, sagt Gruppenleiter Volker Umbreit. „Eine Familie kommt regelmäßig aus Freiburg hierhergefahren.“Rund 50 Kinder kämen verteilt aufs Jahr in die „Schatzinsel“.
Warum das Angebot so wertvoll ist, erklären betroffene Eltern: „Leon geht überall mit, wo es irgendwie möglich ist“, schildert Pflegemutter Anita Fritsch. Auch den Urlaub versuche die Familie so zu gestalten, dass er mitfahren kann. Manchmal jedoch kommt sie an Grenzen, und dann ist sie froh, dass sie Leon in der „Schatzinsel“gut betreut weiß. Wenn sich die Geschwisterkinder zum Beispiel vernachlässigt fühlen und die Aufmerksamkeit von Mama und Papa auch mal für sich haben möchten. Mehrmals im Jahr fährt Anita Fritsch deshalb mit Leon von Bad Wurzach nach Zußdorf. Ihn in der Gruppe zu lassen, ist ihr zunächst nicht leichtgefallen. „Am Anfang hab ich Rotz und Wasser geheult“, erinnert sie sich – obwohl sich Leon in der „Schatzinsel“von Anfang an sehr wohlgefühlt habe. „Hier sind seit Jahren die gleichen Mitarbeiter. Leon kennt die Personen und freut sich jedes Mal, sie wiederzusehen.“
„Ich danke dem Herrgott dafür, dass es diese Gruppe gibt“, sagt eine andere Mutter, deren Tochter als Kleinkind einen Hirntumor hatte und seither schwerbehindert ist. Die inzwischen 14-Jährige kann nicht allein stehen, hat eine Magensonde und regelmäßig Krämpfe. „Mein Mann und ich sind eigentlich immer im Einsatz“, berichtet die Mutter. „Man steht 24 Stunden am Tag unter Strom. Da ist man irgendwann total ausgepowert.“Auch Alltagsdinge wie Einkäufe oder Friseurbesuche müssten immer genau geplant werden. Über eine Beratungsstelle hat sie von der Möglichkeit erfahren, Kurzzeitaufenthalte für die Tochter in der Wohngruppe in Zußdorf in Anspruch zu nehmen. Während sie die Tochter dort in einem guten Umfeld weiß, genießt sie es, sich zu Hause einfach mal ganz in Ruhe hinzusetzen, ohne gleich wieder aufspringen zu müssen.
Rettung in letzter Minute
Die Kurzzeitwohngruppe sei eine wertvolle Unterstützung für Eltern, die ihr behindertes Kind zu Hause pflegen, sagt Stefan Geiger, Elternbeiratsvorsitzender der Zußdorfer Einrichtung. Es gebe großen Bedarf, aber zugleich nur ganz wenige Häuser, die so etwas anbieten. Die meisten hätten nur dauerhafte Wohnplätze für Menschen mit Behinderung. Die finden sich übrigens auch bei der St.-Jakobus-Behindertenhilfe, zu der die „Schatzinsel“gehört. Das Problem sei, dass Kurzzeitwohngruppen fast nicht kostendeckend zu betreiben seien, sagt Stefan Geiger. Und Jörg Stöhr, Bereichsleiter bei der St.Jakobus-Behindertenhilfe, bestätigt: „Ohne unseren stationären Bereich im Hintergrund wäre es nicht finanzierbar.“Dabei kann eine Kurzzeitbetreuung für Kinder mit Behinderung manchmal Rettung in letzter Minute sein, zum Beispiel wenn die Eltern krank werden, erklärt Stefan Geiger. Haben Eltern eine Kurzzeitwohngruppe für ihr Kind gefunden, können sie für 28 bis 56 Tage pro Jahr, abhängig von der Pflegestufe, eine Kostenübernahme bei der Pflegekasse beantragen. Und während sich die Eltern um die Bürokratie kümmern, freuen sich die Jungen und Mädchen in der „Schatzinsel“über Bastel- und Backnachmittage, Besuche bei der Feuerwehr oder Ausflüge zu einem Imker und seinen Bienen. Am 23. März feiert die Kurzzeitwohngruppe zehnjähriges Bestehen – mit großer Seifenblasenshow. Spätestens dann wird der neunjährige Leon bestimmt wieder übers ganze Gesicht strahlen.
Weitere Informationen zur Kurzzeitbetreuung gibt es bei der St.-Jakobus-Behindertenhilfe in Zußdorf, Telefon 07503 / 9270.