Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Freiburg wählt: Ackerbau oder Wohnbau

Bürger entscheide­n über einen neuen Stadtteil für 15 000 Menschen

- Von Lothar Häring

FREIBURG - Das Thema Wohnungsno­t besitzt aktuelle Brisanz. In Freiburg sind am Sonntag 172 000 Wahlberech­tigte beim sechsten Bürgerents­cheid in der Geschichte gefragt, ob der neue Stadtteil Dietenbach mit 6500 Wohnungen für etwa 15 000 Menschen und damit eines der bundesweit größten Projekte dieser Art entstehen soll.

Gerade hier, in der Öko-Hochburg, lässt diese Frage die Emotionen besonders hochkochen. Bezeichnen­derweise war der vierte Bürgerents­cheid im Jahr 2006 der erste erfolgreic­he überhaupt. Zur Abstimmung stand damals im Prinzip die gleiche Thematik. Die Stadt wollte 510 Millionen Euro mit dem Verkauf ihrer Immobilien verdienen und so auf einen Schlag alle Schulden loswerden. Doch die Bürger sagten Nein – und das mit großer Mehrheit von 70 Prozent.

Die Wohnungsno­t in der Universitä­tsstadt mit ihren heute 230 000 Einwohnern hat sich mittlerwei­le massiv verschärft. Freiburg, nicht nur von der Sonne verwöhnt, boomt und gehört bei Miet- und Eigentumsw­ohnungen zu den teuersten Städten Deutschlan­ds. Jedes Jahr kommen an die 2000 Neubürger dazu. Die Mieten sind seit 2000 um 40 Prozent gestiegen, in den neueren Stadtteile­n gar um bis 80 Prozent.

Die Warteliste­n bei den Wohnbauges­ellschafte­n umfassen annähernd 2000 Interessen­ten. Immer mehr Menschen können sich keine bezahlbare Wohnung mehr leisten. Die Stadt warnt vor den sozialen Folgen und gibt deshalb ein festes Verspreche­n ab: „Die Schaffung von preisgünst­igem Wohnraum ist das wichtigste Ziel. Es wird nicht nach Höchst-, sondern nach Festpreise­n vermarktet.“Und ganz wichtig: Klimaneutr­al soll alles sein – und ultraökolo­gisch.

Schon in den 1990er-Jahren baute Freiburg zwei neue Stadtteile: Rieselfeld (Erstbezug 1996) und Vauban (Erstbezug 1998). Heute zählen sie 10 100 beziehungs­weise 5600 Einwohner, Aber die Wohnungsno­t konnten sie auf Dauer nicht verhindern. Deshalb also jetzt Dietenbach, vier Kilometer vom Stadtzentr­um entfernt, Richtung Autobahn-Zubringer Karlsruhe/Basel, gegenüber von Rieselfeld.

Für den Gemeindera­t war der Fall von Anfang an ziemlich klar: 44 Mitglieder stimmten für Dietenbach, nur vier dagegen. Zudem gibt es in der Stadt ein breites Bündnis dafür, von den Arbeitgebe­rn über die Grünen und die Caritas bis hin zur Linksparte­i. Auch der Freiburger Fußballtra­iner Christian Streich macht sich für das Neubaugebi­et stark.

18 000 Unterschri­ften

Doch dann leiteten vor allem die Eigentümer der landwirtsc­haftlichen Flächen und Umwelt-Aktivisten, manche sagen auch „gutsituier­te Öko-Freiburger“, ein Bürgerbege­hren ein. Sie brachten fast 18 000 Unterschri­ften zusammen, 6000 mehr als nötig, und erzwangen so den Bürgerents­cheid.

Seither tobt in Freiburg ein verbissene­r Wahlkampf. Zur zentralen Veranstalt­ung fuhren die Gegner mit knapp 100 Traktoren in der Innenstadt vor. „Wir spüren doch alle die Folgen des Klimawande­ls, dagegen müssen wir etwas tun“, nennt Ulrich Glaubitz von der Bürgerinit­iative „Rettet Dietenbach“ein zentrales Argument. Es gehe auch darum, die Bodenschät­ze nicht zu zerstören. Die Landwirte, die auf der 110 Hektar großen Fläche vor allem Mais, Gerste, Weizen und Kürbisse anbauen, fürchten um ihre Lebensgrun­dlagen. „Wo ist denn die viel gerühmte Green City?“, fragen sie.

Es geht am Sonntag also um nicht weniger als die Zukunft Freiburgs, im Kern aber um eine einfache Frage: Ackerland oder Bauland? Umso komplizier­ter hört sich die Frage auf dem Wahlzettel an: „Soll das Dietenbach­gebiet unbebaut bleiben?“Sie ist die Folge des Bürgerbege­hrens. Heißt: Wer Ja sagen will zum neuen Stadtgebie­t, muss mit Nein stimmen. Das hat bei den Werbestrat­egen der Stadt zu einigem Kopfzerbre­chen geführt. Sie sind dann auf einen Spruch gekommen, der überall in der Stadt von den Plakaten prangt: „Nie war ein Nein so Zukunft!“Ob diese Erfolg haben, ist fraglich. Zwar hat eine repräsenta­tive Umfrage der „Badischen Zeitung“ein klares Ergebnis vermittelt: 58 Prozent (vorwiegend Jüngere) für, 31 Prozent (vorwiegend Ältere) gegen Dietenbach. Doch das war Ende Januar und nicht mehr als ein Stimmungsb­ild. In den zahlreiche­n Leserbrief­en sprechen sich an die 80 Prozent dagegen aus.

Nachdem das Quorum für Bürgerents­cheide von 25 auf 20 Prozent gesenkt wurde, benötigt die Bürgerinit­iative rund 34 500 Stimmen für einen Erfolg. Das sind zwar doppelt so viele, wie sie beim Bürgerbege­hren erreicht hat, trotzdem gibt sich Ulrich Glaubitz „zuversicht­lich nach dem enormen Zuspruch, den wir erfahren“. Gefragt nach den Alternativ­en der Initiative gegen die Wohnungsno­t verweist er auf „Nachverdic­htung“und Erhöhung der Geschosse. „Es gibt genug freie Flächen.“So könnten schnell neue Wohnungen entstehen. Im Gebiet Dietenbach würde es acht bis zehn Jahre dauern.

60 000 Einpendler

Die Stadtverwa­ltung mit dem neuen Oberbürger­meister Martin Horn (parteilos) an der Spitze hält das für „realitätsf­remd“, zumal beispielsw­eise die Entscheidu­ng über Geschosser­höhung allein bei den Eigentümer­n liege. Die einzige Möglichkei­t sei, dass sich der Wohnungsba­u ins Umland verlagere – mit allen negativen Folgen für Umwelt und Klima. Schon jetzt belaufe sich die Zahl der Einpendler nach Freiburg auf mehr als 60 000, und auch in den Nachbarort­en herrschten Platznot und Wohnungsno­t.

Auf Entlastung im nahen Emmendinge­n kann Freiburg nicht bauen. Dort haben die Bürger im Juli 2016 die Erschließu­ng eines neuen Wohngebiet­s für 1600 Menschen mit satter Dreivierte­l-Mehrheit abgelehnt.

 ?? FOTO: PATRICK SEEGER ?? Noch fliegen Vögel über einen Acker am Rand von Freiburg. Dort soll aber der neue Stadtteil Dietenbach entstehen. Die Gegner haben einen Bürgerents­cheid durchgeset­zt.
FOTO: PATRICK SEEGER Noch fliegen Vögel über einen Acker am Rand von Freiburg. Dort soll aber der neue Stadtteil Dietenbach entstehen. Die Gegner haben einen Bürgerents­cheid durchgeset­zt.

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