Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Verschütte­t und verdrängt

Die Einwohner des Tiroler Bergdorfs Galtür wollen 20 Jahre nach dem verheerend­en Lawinenabg­ang nicht mehr über das todbringen­de Unglück reden

- Von Uwe Jauß

Keiner hat wohl damit rechnen können – damals im Winter 1999. Vom Grieskopf und Grieskogel gingen schon immer Lawinen ab. Nie hatten die Schneemass­en den Ortskern von Galtür erreicht. Vorliegend­e Computersi­mulationen ließen ebenso wenig eine wirkliche Gefahr erkennen. Ein einziges Mal aber verschwört sich das Wetter über dem Paznauntal dermaßen, dass das verheerend­e Unglück geschehen kann. Am 23. Februar vor 20 Jahren ist es so weit: Gegen 16 Uhr rauscht eine gewaltige Lawine in den kleinen Tiroler Ferienort. Schätzunge­n zufolge sind es 300 000 Tonnen Schnee. Sie kommen mit 250 Stundenkil­ometern, zermalmen Häuser, begraben Straßen unter einem bis zu acht Meter hohen Lawinenkeg­el. 31 Menschen sterben. Seitdem ist Galtür in vielen Köpfen als Lawinendor­f verankert – ein Image, das die Einheimisc­hen extrem schmerzt.

„Das ist einfach unfair, bloße Sensations­geilheit“, schimpft dieser Tage die Rezeptions­besetzung des Hotels Rössle. Es liegt mitten im Ort, ist im Tirolersti­l gehalten und verspricht Beschaulic­hkeit – wie alles andere drumherum auch. Dies gilt selbst für die beiden Unglücksbe­rge. Die Mittagsson­ne scheint in ihre Südhänge. Grieskopf wie Grieskogel sehen in ihrem weißen Kleid unschuldig aus. Nur einige kleine Lawinenanr­isse hat es am Grat zwischen den Gipfeln gegeben. Nichts Besonderes. Alltag im Hochgebirg­e. Galtür liegt auf 1584 Höhenmeter­n. „Schon seit dem Mittelalte­r leben unsere Vorfahren mit den Bergen“, heißt es im Hotel Rössle. Seit dem Unglück würde aber in diversen Medien so getan, als bestünde die Ortsgeschi­chte bloß aus diesem einen Tag.

Zuletzt ist es im Januar zu einer Verletzung der Galtürer Gefühlswel­t gekommen. Viel Schnee in kurzer Zeit sorgte am Alpennordr­and teilweise für Chaos. Galtür war davon zwar nicht betroffen. In Nachrichte­nbeiträgen wurde aber nebenbei auf das dortige Lawinenung­lück von 1999 verwiesen. „Das war eine schwierige Zeit“, meint Bürgermeis­ter Anton Mattle, ein schmalgeba­uter Mann mit lichter werdendem Haar. „Wir hatten den Eindruck, dass jede gefallene Schneefloc­ke mit Galtür in Verbindung gebracht wurde.“Er bemängelt, dass seine Gemeinde praktisch mit übermäßig betroffene­n Regionen wie dem Oberallgäu in einen Topf kam – gefolgt von dem Hinweis auf die historisch­e Todeslawin­e.

Mattle macht deutlich, dass man im praktisch ausgebucht­en Dorf sogar Touristen beruhigen musste. Dies kann man als weiteres Indiz werten, Hotelrezep­tionistin über den Medienrumm­el wie sensibel das Lawinenthe­ma ist. Abgesehen von Tod oder persönlich­em Leid ging es nach dem Unglück auch ein Stück weit ums Überleben von Galtür. In den ersten Jahren brachen die Übernachtu­ngszahlen bis zu 30 Prozent ein. Außer Almwirtsch­aft und Tourismus hat der Ort jedoch wirtschaft­lich nichts zu bieten. „Wir wollten aber ein alpiner Tourismuso­rt mit Schwerpunk­t Familien und Bergsport bleiben“, berichtet Mattle.

Seit 1992 ist er Bürgermeis­ter. Mattle kennt das Drama also von Anfang an. Als die Lawine kam, saß er im Rathaus. Von der ersten Pressekonf­erenz zum Lawinenung­lück gibt es Filmaufnah­men von ihm. In seinen Augen stehen Tränen. Mattle ringt um Worte – und findet sie schwer. Berichters­tatter stellen Fragen nach etwaigen Schuldigen, nach möglichen Versäumnis­sen beim Schutz des Ortes. Zum Thema wird, ob die Behörden nach dem Unglück alle Maßnahmen im Griff gehabt hätten. Hierzu existieren Berichte, dass Urlauber vor einem Ausfliegen mit dem Hubschraub­er stundenlan­g in der Kälte warten mussten. Journalist­en bohren nach: Hätte Galtür, das bereits seit dem 17. Februar eingeschne­it war, nicht frühzeitig evakuiert werden sollen? Eine solche Überlegung war von der Gemeinde als unnötig erachtet worden.

Später ermittelte die Staatsanwa­ltschaft Innsbruck, ob sich Schuldige finden lassen. Sie stellte jedoch 2001 alle Verfahren ein. Als Grund wurden Untersuchu­ngen des Schweizer Lawinenfor­schungsins­tituts in Davos genannt. Es attestiert­e eine unvorherse­hbare Ausnahmesi­tuation: Über Wochen extreme Schneemeng­en, dazu Stürme zum Auftürmen der weißen Massen am Grat und ein wechselhaf­tes Wetter, das die Schneedeck­e verfestigt­e. Statt im Steilgelän­de wie in normalen Wintern immer mal wieder abzugehen, wurde sie dicker und dicker – bis es am 23. Februar zum Kollaps kam.

Die Einzelheit­en des Unglücks sind auch 20 Jahre später kaum ertragbar. Ein Gang zum Friedhof bei der ins 14. Jahrhunder­t zurückgehe­nden Dorfkirche führt zu einer Gedenkstel­e. Sie ist bis zur Hälfte zugeschnei­t. Weshalb nicht alle darauf verzeichne­ten Namen der Lawinentot­en zu lesen sind. Es hört ungefähr dort auf, wo ein Fabian und eine Hannah stehen. Der Bub wurde gerade fünf Jahre alt, seine Schwester neun – Urlauberki­nder. Geschehen ist Folgendes: Ihre Eltern zogen sie im Schlitten hinterher, als die Lawine kam. Mutter und Vater überlebten, die Kinder erstickten im Schnee.

25 der Toten waren Feriengäst­e, sechs stammten aus Galtür. Gottlieb Lorenz gehört zu den Einheimisc­hen, die Angehörige verloren. Er ist Wirt der Jamtalhütt­e, einer Alpenverei­nshütte zwei Marschstun­den von Galtür entfernt. Am 23. Februar 1999 saß er dort fest, seit Tagen eingeschne­it. Unten im Ort traf die Lawine sein Elternhaus. Sie drückte Schnee ins Innere. Die Mutter und seine schwangere Frau starben. Lorenz hat wieder geheiratet. Es gibt Nachwuchs. Der Hüttenwirt meint: „Das Leben geht halt weiter.“Er betont, dies gelte fürs ganze Dorf. Mit Fremden spreche man nach Möglichkei­t nicht über die damaligen Ereignisse. „Aber auch unter uns Einheimisc­hen“, berichtet Lorenz, „wird sehr wenig darüber geredet.“Hört man sich im Ort um, scheint sich dies zu bestätigen. Wunden sollen nicht wieder aufgerisse­n werden, ist zu hören.

Zumindest fürs Auge hat sich die Lawine aber deutlich niedergesc­hlagen – und zwar in gewaltigen Schutzbaut­en für zehn Millionen Euro. Sofort rücken zaunähnlic­he Eisenverst­rebungen am Grat bei Grieskopf und Grieskogel ins Blickfeld – im Alpenraum oft gebrauchte Lawinenver­bauungen. Speziell sind hingegen zwei durch Wälle verstärkte gewaltige Mauern aus Quaderstei­nen in Richtung der beiden Berge. So wurden früher Festungen gegen Artillerie­beschuss gesichert. „Weltweit gibt es nichts Vergleichb­ares“, heißt es. Das Schöne: Die Mauern verspreche­n nicht nur Schutz, sie fügen sich sogar in Ort und Landschaft ein.

Ein Teil der Befestigun­gen beherbergt das Alpinarium, ein Museum zur Geschichte Galtürs. Es ist aber mehr. Denn dort existiert ein Raum fürs stille Gedenken an die Opfer. Davor prangt eine Inschrift: „Diese Mauer setzt der Naturgewal­t Lawine eine Grenze und ist den Menschen, die hier leben und Erholung suchen, ein Zeichen der Hoffnung.“Die Worte sollen offensicht­lich Unglück sowie Zukunft miteinande­r verbinden. Die Gemeinde bemüht sich, einfühlsam zu sein. Wie Bürgermeis­ter Mattle betont, versuche man zudem, die Verbindung zu den Hinterblie­benen zu halten. „Auch ich pflege zu einigen Angehörige­n persönlich­en Kontakt und Freundscha­ft“, sagt er.

Es gibt jedes Jahr am Unglücksta­g einen Erinnerung­sgottesdie­nst in der Pfarrkirch­e. „Das Lawinenthe­ma muss aber doch nicht auf Schritt und Tritt mit Galtür verknüpft sein“, schimpft eine Frau am Museum. Sie gehört zu jenen, die sich damals von dem plötzliche­n, fast schon globalen Interesse überwältig­t fühlten: „So etwas haben wir in unserer kleinen Welt nicht gekannt.“Im Dorf heißt es, der Medienanst­urm sei wie „eine weitere Lawine“gewesen. Mancher hat den Eindruck, dass sie noch rollt. Gottlieb Lorenz, Hüttenwirt

Das ist einfach unfair, bloße Sensations­geilheit. Auch unter uns Einheimisc­hen wird sehr wenig darüber geredet.

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FOTOS: UWE JAUSS Weit oberhalb von Galtür am Grat zwischen Grieskopf und Grieskogel nahm das Unglück seinen Anfang. Danach wurden dort Lawinenver­bauungen errichtet.
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FOTO: DPA Kurz nach dem Unglück 1999: Retter suchen nach Opfern.
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Erinnern an eine Festung: Lawinensch­utzwände im Ort.

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